Jeder Mangroventrieb hat einen kleinen QR-Code. Mit ihrem Smartphone scannt Kadiatu Turay den Code, dann macht sie ein Foto von der kleinen Pflanze, die im vergangenen Jahr gepflanzt wurde. Die ersten Mangroven haben sie vor sechs Jahren im Rahmen eines Pilotprojekts gepflanzt, sie sind mittlerweile fest verwurzelt und die im Wind wogenden Blätter leuchten grün am anderen Ende der Bucht.
Kadiatu Turay gehört zum Team um Saibatu Sandy. Sandy koordiniert für den Zusammenschluss armer Menschen im städtischen und ländlichen Raum (Federation of Urban and Rural Poor, FEDURP) das Team, das sich an diesem Küstenabschnitt in der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown um das Pflanzen und den Erhalt von Mangroven kümmert. Mangroven sind eine immergrüne Baumart, die in Salzwasser wächst und bis zu viermal so viel CO₂ speichern kann wie eine vergleichbare Fläche eines Regenwaldes - und damit zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen kann.
Tracker wie Kadiatu, also diejenigen, die über die Mangroven wachen, bekommen umgerechnet etwa 10 US-Dollar am Tag für ihre Einsätze. Im Watt kämpfen sie sich mühsam voran, der Schlamm saugt an den Beinen, lässt jeden Schritt zum Kraftakt werden. Alle vier Monate werden die Tracker von der Stadt angeheuert, um zu dokumentieren, wie sich die gepflanzten Bäume entwickeln. Knapp eine Million Bäume 50 verschiedener Arten – unter anderem Mangroven, Mangobäume und Teakbäume – wurden seit 2020 im Programm „Freetown the Treetown” gepflanzt, ihr Wachstum wird dokumentiert.
Sandy sammelt auf dem Weg von der Hauptstraße durch die engen Gassen des „Congo Town“-Slums in Freetown ihre acht Mitstreiterinnen und Mitstreiter ein. Am Wasser angekommen, legen die Frauen ihre Wickelröcke ab. Die Flipflops werden gegen Kniestrümpfe getauscht – „am besten zwei übereinander”, sagt Sandy. Am Anfang hatten sie Gummistiefel, doch die blieben immer wieder im Schlick stecken. Die Strümpfe schützen immerhin ein bisschen vor Metallteilen oder anderen Dingen, die im Schlamm verborgen sind, in dem die Mangroven wachsen.
Die Bäume schützen die Menschen, weil sie Überschwemmungen abmildern
Die ungeschützte Küste birgt für die Menschen in Congo Town, die weder fließend Wasser noch verlässlichen Strom haben, Gefahren. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Fluten. „Die Baumpflanzprojekte gehören den Gemeinden von Freetown”, sagt Sandy. „Und die Anwohner schützen die gepflanzten Bäume.” Die Bäume wiederum schützen dann die Menschen, weil sie Stürme abfangen und so die Erosion der Küste und Überschwemmungen abmildern.
Dass sie dafür auch noch Geld von der Stadtverwaltung bekommen, ist ein besonderer Bonus. In einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen zwischen 50 und 100 US-Dollar im Monat liegt, sind die 10 Dollar pro Einsatz ein beträchtlicher Beitrag zum Einkommen und hilft Familien direkt, sich besser für die Zukunft aufstellen zu können.
Die Luft ist feucht und heiß, die Mittagssonne brennt. Doch jetzt ist Ebbe und das Team sinkt zwar in den Schlamm ein, aber nur bis zum Knie. Mehr als 100.000 rote Mangroven haben die Freiwilligen hier in den vergangenen Jahren gepflanzt, auch heute haben sie ein paar Setzlinge dabei. Jetzt ist das nächste Ziel: so viele der schon gesetzten Pflanzen wie möglich erhalten. Ihre verzweigten Wurzelsysteme bieten, sobald sie innerhalb der ersten Jahre ein paar Meter gewachsen sind, Unterschlupf für Fische, die dann wiederum Fischern eine Einkommensquelle bieten, erklärt Kadiatu Turay. Sie ist froh, Teil des Projekts zu sein. „Als junger Mensch ist es nicht leicht im Slum”, sagt die 34-jährige Mutter einer Tochter. Sie ist froh, dass sie sich für die Gemeinschaft engagieren kann und damit auch Geld verdient.
Treetown-Einsätze helfen den Slumbewohnern finanziell
Im Schnitt überleben nach Angaben der Programmverantwortlichen etwa 80 Prozent der Bäume. Etwa zehn Prozent der gepflanzten Bäume sind Mangroven. Den Großteil des „Treetown“-Projekts macht die Wiederaufforstung von Gebieten an Land aus, die in den vergangenen Jahrzehnten entwaldet wurden – für Baumaterial, Feuerholz oder Kohle. Doch mit immer weniger Bäumen war die Stadt immer stärker den Naturgewalten ausgesetzt. 2017 gab es nach tagelangen starken Regenfällen einen schweren Erdrutsch an einem der Hügel mitten in Freetown, bei dem mehr als tausend Menschen starben. Der Hang war einer der ersten, der im Programm wiederaufgeforstet wurde. Auch dort sind es die Anwohner, die durch das Programm ihre Umgebung wieder aufwerten und damit einen Beitrag zum Lebensunterhalt verdienen.
Die Stadtverwaltung finanziert das „Treetown“-Programm mit Geldern von der Weltbank und dem Fonds zum Schutz der globalen Umwelt „Global Environment Facility“. Kleine lokale Organisationen setzen die Vorhaben um. Ins Leben gerufen wurde das Programm von Yvonne Aki-Sawyerr, die seit 2018 Freetown als Bürgermeisterin regiert und von Anfang an Maßnahmen gegen den Klimawandel und für eine gerechtere Stadt zu ihrem Schwerpunkt erklärt hat. „Freetown transformieren“ ist ihr Motto. Dazu gehören auch Recyclingprojekte, Bildungsprojekte und die Installation einer Kläranlage. Für ihr Engagement hat sie schon mehrere Preise bekommen, zuletzt den Afrika-Preis der Deutschen Afrika Stiftung.
Verlässliche Einkommensquellen sind rar, besonders für die Menschen, die in den Slums leben und sich oft mit Tagelöhnerjobs von Tag zu Tag hangeln. Die bezahlten Einsätze im „Treetown“-Projekt stärken die Community von innen und beziehen die Menschen in die Gestaltung ihrer Umwelt ein – und gleichzeitig ist das Programm eine Maßnahme, um mit den Folgen des Klimawandels umzugehen.
Austausch mit Freetowns Bürgermeisterin Aki-Sawyerr
Die FEDURP ist eine der zentralen Partnerinnen in der Umsetzung von Aki-Sawyerrs Ansatz. Yirah Conteh hat die Organisation 2008 gegründet und kümmert sich heute vor allem um die politische Arbeit. Der Elektriker ist im Slum Dworzack aufgewachsen. Der Mann Anfang 50 mit einem offenen Lächeln hat einen direkten Draht zu Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Als er sein Motorrad vor dem Büro parkt, kommt direkt eine Frau mit einer Frage auf ihn zu, die er an seine Kollegen im Büro verweist.
Er trifft aber auch Politiker wie die Bürgermeisterin Aki-Sawyerr. Freetown entwickelt sogenannte Community Area Action Plans, im Team mit dabei sind auch lokale Experten wie Conteh. Er ist nicht nur Elektriker, sondern hat im vergangenen Jahr auch sein Studium in Community Development abgeschlossen. Als aktives Mitglied beim Dachverband Slum Dwellers International tauscht er sich regelmäßig mit Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern darüber aus, wie Städte weltweit die Lebensumstände für arme Menschen in den Slums verbessern können, zuletzt bei Konferenzen in Kenia, Ruanda und Dänemark.
Autorin
Sein Motto ist: „Entfernt den Slum von den Menschen und nicht die Menschen aus den Slums.” Das bedeutet: verbessern, wo möglich, umsiedeln, wo nötig. Gemeinsam mit FEDURP fertigen die Slumbewohner Karten an, planen, entwickeln Visionen für ihren Stadtteil: Dazu gehören grundsätzliche Infrastruktur wie saubere Wasserquellen, Straßen, Bildungseinrichtungen und gesicherte Landrechte, aber auch grüne, öffentliche Orte, an denen die Bewohner zusammenkommen können. Bis in die 1990er Jahre hatte Freetown etwa eine halbe Million Einwohner. Im Bürgerkrieg, der das Land von 1991 bis 2002 erschütterte, flohen Hunderttausende vor der Gewalt in die Hauptstadt. Heute hat sich die Zahl der Einwohner fast verdreifacht und rund 40 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner leben in einem der mehreren Dutzend Slums wie Congo Town.
Aus seinem Büro am Hang eines der Hügel, über die Freetown sich erstreckt, blickt der sierra-leonische Stadtforscher Joseph Macarthy über die Stadt bis runter auf die Bucht, in der Sandy und Turay die Mangroven versorgen. Er ist einer der Direktoren des Sierra Leone Urban Research Center. Freetown ist eine verhältnismäßig kleine Hauptstadt, die vor großen Problemen steht, sagt er. Die städtischen Strukturen, die sich unreguliert entwickelt haben, zu verändern und Gesetze tatsächlich umzusetzen, sei schwer. Dass Freetown der Sitz der Regierung ist, die Stadt aber von der Opposition regiert wird, mache Fortschritt oft kompliziert. „Aki-Sawyerr hätte mehr erreichen können, wenn die nationale Politik nicht dazwischengekommen wäre”, sagt Macarthy. Denn Aki-Sawyerr habe große Pläne, eine Präsidentschaftskandidatur für die nächste Wahl steht im Raum, und das bedeute, dass ihre politische Strategie wichtiger wird als die Bedürfnisse der Menschen. Ein weiteres Problem: großer Geldmangel. Die Bürgermeisterin hat sich deshalb immer wieder um Gelder von außerhalb bemüht, mit Erfolg.
Slumbewohner werden in Planungen einbezogen
Anders als in vielen anderen afrikanischen Großstädten wie Addis Abeba (Äthiopien) oder Nairobi (Kenia) gab es, laut Conteh, in den vergangenen acht Jahren keine Vertreibungen von Slumbewohnern. „Wir sind integraler Teil der Stadtentwicklungsprozesse”, sagt Conteh, der bis heute im Slum Dworzack wohnt.
In Freetown nehmen in vielen Gegenden die Anwohnerinnen und Anwohner die Lösung ihrer Probleme selbst in Angriff, sagt Macarthy. Sie organisieren sich lokal und schließen sich in Vereinen wie FEDURP zusammen. Mit denen geht die Stadtverwaltung ins Gespräch, um gemeinsam Maßnahmen zu entwickeln, die die Stadt verbessern und die Menschen weniger anfällig für Umweltkatastrophen und wirtschaftliche Krisen machen. Solche Prozesse führten nicht nur dazu, dass sich Menschen gesehen fühlen, sondern auch dazu, dass sie selbst Politikerinnen und Politiker mehr zur Verantwortung ziehen und auf die Umsetzung ihrer Pläne pochen.
Am Horizont sieht man die Containerschiffe, die in den Hafen ein- und auslaufen. Eine junge Frau hat sich mit dem Einkommen aus dem Mangrovenprojekt einen kleinen Laden aufgebaut, in dem sie DVDs und CDs verkauft. Andere zahlen mit dem Geld die Schulgebühren ihrer Kinder. Manchmal fallen Handys ins Wasser – oder Teammitglieder verletzen sich an Metallteilen, die im Schlamm versunken sind. Dafür hat das Programm bisher keine Lösung, sagt Sandy. Sie sieht hier Verbesserungsbedarf, ebenso wie der Umsetzung anderer Initiativen, die die Lebensqualität der Menschen steigern sollen. Nicht weit entfernt ist eine der großen offenen Müllhalden der Stadt. Der Großteil der Abwässer wird ins Meer geschwemmt – ein wenig Abhilfe versucht die Stadt dort zu schaffen, indem sie eine Kläranlage in einem der Slums betreibt. In der Gegend gibt es auch einen Versuch der Stadtverwaltung, reflektierende Dächer einzuführen, die die Hitze in der Stadt reduzieren sollen. Doch nach einer Pilotphase ruht das Projekt jetzt.
Gesammelt macht sich das Mangroventeam wieder auf den Heimweg. Sie stoppen beim Haus einer der Trackerinnen, dort steht ein Eimer mit sauberem Wasser und Seife bereit. Hände und Beine sorgfältig waschen – und dann geht der Alltag weiter. Doch alleine können sie die Auswirkungen des Klimawandels nicht bekämpfen, sagt Macarthy. Dazu braucht es einen radikalen Wandel im Verhalten der industrialisierten Länder im globalen Norden.
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