Arabische Welt im Wandel

Arab Barometer
Wie steht es um demokratische Werte im Mittleren Osten und Nordafrika? Umfragen zeigen: Die Religion verliert an Bedeutung. Und mehr und mehr Menschen befürworten ein liberales Frauenbild.

Die Einstellungen der Menschen im Mittleren Osten und Nordafrika verändern sich auf bemerkenswerte Weise. Heute stufen sich dort 13 Prozent der Bevölkerung als „nicht religiös“ ein; unter jungen Araberinnen und Arabern liegt der Anteil sogar bei 18 Prozent. Das hat eine kürzlich veröffentlichte Studie des Arab Barometers, ein Forschungsnetzwerk für Umfrageforschung im Mittleren Osten und Nordafrika (MENA) an der Universität Princeton, ergeben. Es erhebt seit 2006 Umfragedaten zu soziopolitischen Einstellungen in 15 Ländern im Mittleren Osten und Nordafrika; die Stichproben sind repräsentativ für die Bevölkerung ab 18 Jahren.

Der Anteil der „nicht Religiösen“ wächst in der Region – ein Trend, den wir auch außerhalb des arabischen Raumes beobachten. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Nicht zuletzt könnte der Arabische Frühling (2011) nachwirken; aber auch gegenwärtige innerstaatliche Unruhen, zum Beispiel in Algerien und Sudan, bis hin zu Bürgerkriegen wie im Jemen und Libyen dürften Einfluss auf diesen Trend haben. Insbesondere in Ägypten und Tunesien haben Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in islamistische Bewegungen und Parteien verloren, die sich für mehr Einfluss der Religion auf die Politik einsetzen wie die Muslimbruderschaft und die tunesische Ennahda. Auch Vorbehalte gegenüber extremeren Gruppierungen, die im Namen des Islam auftreten, wie der sogenannte Islamische Staat, dürften dazu beitragen, dass sich Teile der Bevölkerung zunehmend als „nicht religiös“ bezeichnen.

Unter jüngeren Bürgerinnen und Bürgern spielt vermutlich auch die Liberalisierung durch das Internet und soziale Netzwerke eine Rolle. Der Kontakt mit Werten anderer Religionen und weiteren Aspekten des sozialen Lebens in anderen Teilen der Welt beeinflusst die Weltsicht junger Araberinnen und Araber.

Präferenz für Frauenquote

Die Ergebnisse sind allerdings nicht als völlige Abkehr von Religion zu verstehen. Eher sind sie ein Zeichen, dass Religion sich vermehrt im Privaten abspielt. Immerhin geben fast alle Befragten an, sich mit einer religiösen Konfession zu identifizieren.

Bemerkenswert ist auch, dass viele eine Präferenz für mehr Beteiligung von Frauen auf politischer Ebene äußern. Eine Mehrheit von rund 60 Prozent befürwortet eine Frauenquote für politische Ämter und würde eine Frau als Staatsoberhaupt akzeptieren. Dies zeugt von einer Aufweichung der patriarchalischen Strukturen. Frauen haben inzwischen einen wachsenden Anteil an der Politik. Frauenquoten sind teilweise bereits fest verankert, zum Beispiel in Marokko und Jordanien. Damit sind Frauen auf der politischen Bühne sichtbarer geworden.

Allerdings glauben zwei Drittel der Befragten weiterhin, dass Männer bessere Politiker sind. Gleichwohl streben vor allem die Frauen nach weiterer politischer Emanzipation. Mehr qualifizierte Frauen in politische Ämter zu bringen, sollte Ziel der Politik im arabischen Raum sein. Frauenquoten könnten ein Mittel sein um dies zu erzielen, sind aber nicht unumstritten. Die Regierungen bleiben unter Zugzwang, Frauen auf der politischen Bühne zu fördern und zu unterstützen und ihnen eine Chance zu geben, sich als kompetente Führungsfiguren zu beweisen, vor allem auch in Bereichen, die für die breite Öffentlichkeit sichtbar sind.

Rollenverständnis ändert sicht

In Sachen Geschlechtergleichheit scheint der Nahe Osten und Nordafrika aber träge. Nur ein Viertel der Befragten in der Region stimmt zu, dass Frauen und Männer ein gleicher Anteil des Erbes zusteht. Im Libanon ist der Anteil am höchsten, was unter anderem an der größeren Verbreitung des Christentums liegen könnte. Ehemänner, so die Meinung der Mehrheit (71 Prozent), sollten die Hauptentscheidungsträger in der Familie bleiben.

Interessant ist, dass hohe Arbeitslosigkeit in vielen Kontexten Frauen vermehrt dazu zwingt, zum Haushaltseinkommen beizutragen. Zunehmende Erwerbstätigkeit und der damit verbundene Kontakt zu anderen Frauen im Arbeitsleben sollten langsam dazu führen, dass Frauen die Chance haben, sich auch kulturell zu emanzipieren. Damit einhergehend ist zu erwarten, dass sich auch das Rollenverständnis bei Männern ändert, die nun mehr Kontakt mit Frauen im Berufsleben haben. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass zukunftsweisende Rollenmodelle sowohl von Frauen als auch von Männern akzeptiert werden und langfristig ein Einstellungswandel zu erwarten ist.  

Schlechte Noten für Wirtschaftspolitik

Autoren

Kathrin Thomas

ist Research Associate am Arab Barometer und Senior Research Specialist an der Universität Princeton.

Michael Robbins

ist Direktor des Arab Barometers an der Universität Princeton und Research Fellow an der Universität Michigan.
Unzufriedenheit herrscht in der arabischen Welt vor allem mit Blick auf die Leistung von Regierungen und Politik. Viele Bürgerinnen und Bürger berichten, dass ihre Regierungen zu wenig bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Bekämpfung der Inflation und bei der Bereitstellung von öffentlichen Diensten wie Bildung und Gesundheitsversorgung erreichen. Lediglich mit Blick auf die Sicherheit scheinen die Menschen ihren Regierungen weitgehend zu vertrauen. Dies verwundert nicht, geben doch viele Regierungen im Mittleren Osten und Nordafrika einen großen Anteil ihres Budgets für Sicherheit und Überwachung aus und vergleichen sich mit instabileren Regimen wie dem Jemen oder Libyen, um ihre Erfolge hervorzuheben.  Um Vertrauen zu schaffen und sich die langfristige Unterstützung der Bevölkerung zu sichern, stehen die Regierungen unter Zugzwang, öffentliche Ausgaben auch in anderen Bereichen zu steigern und die öffentliche Verwaltung zu verbessern. Auch die wahrgenommene Korruption muss bekämpft werden: Ausnahmslos wird in allen Länder Korruption als enorm hoch und problematisch wahrgenommen. Nur wenige Befragte geben an, dass sie tatsächlich und wirksam bekämpft wird.

Nicht zuletzt ist bemerkenswert, dass die Hoffnungen vieler auf einen demokratischen Wandel durch den Arabischen Frühling verflogen zu sein scheint. Acht Jahre nach den Protesten haben nur wenige Regime einschneidende Reformen eingeleitet. Dies spiegelt sich in der Skepsis der Bevölkerung gegenüber demokratischen Werten wider. Das Militär kontrolliert Ägypten. In Tunesien war der jüngst verstorbene Präsident Beji Caid Essebsi ein Befürworter des alten Systems unter Ben Ali. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Libyen, ist Bürgerkrieg die Folge des arabischen Frühlings.

Religion und Demokratie schließen sich nicht aus

Liegt eine Erklärung dafür im Zusammenspiel von Staat und Religion? Dazu sollte man wissen, dass sich Religiosität und der Wunsch nach Demokratie nicht ausschließen. Viele, die angeben, sie bevorzugten traditionelles, in der Religion begründetes Recht, erklären gleichzeitig, einen demokratischen Wandel zu unterstützen. Die Geschichte der autoritären Regime im arabischen Raum zeigt, dass bei Weitem nicht alle von ihnen an Religion festhalten, sondern Religion und Politik trennen. Der aufflammende Islamismus der 1990er und 2000er Jahre hat dazu geführt, dass viele traditionell säkulare Regime nun engere Verbindungen von Staat und Religion erwägen, wenngleich eine Mehrheit der Bevölkerung dies nicht unterstützt.

Ist der Raum Mittlerer Osten und Nordafrika im Wandel? Zumindest scheint es so zu sein. Wohin die Reise geht, bleibt allerdings offen. Eine komplette Abkehr von demokratischen und liberalen Werten ist nach der vorliegenden Studie nicht zu erwarten. Im Gegenteil, mehr und mehr Menschen befürworten ein liberales Frauenbild und die Trennung von Religion und Staat.

Zugleich bleibt Stabilität ein großes Anliegen. Das Militärregime in Ägypten und innerstaatliche Konflikte im Sudan und Algerien sowie Bürgerkriege in Libyen und Jemen sind als Dämpfer für die Demokratiebewegungen zu deuten. Die Regierungen in der Region sind gefragt, Korruption und Ungleichheit zu verringern und in Politikbereiche abseits von innerer Sicherheit und Überwachung zu investieren, wie zum Beispiel in die Schaffung von Arbeitsplätzen, Bildung und Gesundheit.

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