Opfer, Täterin, Aktivistin

30. Oktober 2020
Björn Rohwer, Hannah Lesch, Astrid Benölken und Tobias Zuttmann
Tobias Zuttmann
Enoti Kiwuju hat am eigenen Leib erlebt, was die Genital­verstümmelung bedeutet. Ihren beiden Töchtern möchte sie das ersparen.
Genitalverstümmelung
Als sie 16 war, wurden ihre Genitalien verstümmelt, dann arbeitete sie selbst sieben Jahre als
Beschneiderin. Heute tritt Enoti Kiwuju gegen dieses grausame Ritual auf und versucht, dafür auch andere Beschneiderinnen zu gewinnen.

Enoti Kiwuju weiß, dass an ihren Händen Blut klebt. Sie erinnert sich, wie vor vier Jahren das Blut die Oberschenkel des vor ihr liegenden Mädchens hinuntertropfte und im Sand versickerte. Mehrere Stunden war Kiwuju mit ihrer Kollegin durch die tansanische Hitze gelaufen, um in dem Dorf im Norden des Landes sechs Mädchen zu beschneiden. Bei fünf von ihnen gab es keine Komplikationen. Doch das sechste Mädchen blutete immer heftiger. Unter Schmerzen drehte es sich zu Kiwuju und sagte: „Jetzt sterbe ich deinetwegen.“ Dieser Satz begleitet Kiwuju heute noch – auch wenn das Mädchen dann doch am Leben blieb. „Das war der Moment, in dem ich erklärt habe: Ich höre auf zu beschneiden“, sagt sie.

Genitalverstümmelung hinterlässt lebenslange Narben, körperlich wie psychisch. Offiziell ist das Ritual in Tansania seit 1998 verboten. Trotzdem wird in mehreren Regionen im Norden des Landes noch immer die Hälfte der Mädchen beschnitten. Zum Beispiel an der Grenze zu Kenia, wo das Land weit ist und viele Dörfer nur über Trampelpfade miteinander verbunden sind, fürchten die wenigsten Familien staatliche Sanktionen, wenn sie sich dem Verbot widersetzen. Tansanische Organisationen wie die nichtstaatliche Organisation Health Integrated Multisectoral Development (HIMD) versuchen deswegen, die Beschneiderinnen zu überzeugen, ihre Messer niederzulegen. 

Kiwuju traf die HIMD-Aktivistinnen zufällig bei einer von deren Aufklärungsaktionen, kurz nach der Beschneidung der sechs Mädchen. Sie erklärten ihr die Gesundheitsrisiken von Genitalverstümmelungen – von Blutungen über Entzündungen bis hin zu lebenslangen Schmerzen und Traumatisierung. Damals versprach Kiwuju öffentlich, nie wieder ein Mädchen zu verstümmeln.

In ihren sieben Jahren als Beschneiderin hat die heute 31-Jährige etwa 700 Mädchen ohne Betäubung mit einer Rasierklinge Schamlippen und Klitoris abgetrennt. Sechs dieser Mädchen starben. Vielleicht auch mehr, Kiwuju ist sich da nicht sicher. Stirbt ein Massai-Mädchen an den Folgen einer Beschneidung, wird es heimlich beerdigt. Es ist, als habe es nie existiert. 

Bis zum Jahr 2030, so das offizielle Ziel der Vereinten Nationen, soll Genitalverstümmelung weltweit der Vergangenheit angehören. Tansania verfolgt verschiedene Ansätze, um die Tradition zu beenden. Es gibt Heime für Mädchen, die vor einer Beschneidung fliehen, alternative Rituale, um den Übergang der Mädchen ins Erwachsenenleben zu markieren, Aufklärungskampagnen in Dörfern und Schulen. Kiwuju setzt da an, wo sie sich am besten auskennt: bei den Beschneiderinnen.

Ist ihr Mann nicht zu Hause, sperrt sie seine Kühe, Schafe und Ziegen in den Auslauf neben ihrer Hütte ein und besucht ehemalige Berufskolleginnen in den umliegenden Dörfern. Kiwuju, immer in bunte Tücher gewickelt, kurz geschorene Haare, ein harter Zug um die Lippen, ist eine Massai wie sie, die Frauen können offen reden. Kiwuju fragt sie, warum sie glauben, Mädchen beschneiden zu müssen. Die Antworten: Nur durch eine Beschneidung wird ein Mädchen zur Frau. Ein Mädchen, das nicht beschnitten ist, wird eine Hure. Bei der Entbindung einer unbeschnittenen Frau stirbt das Kind, weil die Klitoris wie das Horn einer Kuh den Kopf des Babys verletzt. Sie stinkt wie ein Steinbock. 

Kiwuju weiß, dass es wenig bringt, gegen die Tradition anzudiskutieren. Einfacher findet sie es, Argumente für die Gesundheit vorzubringen. Also erklärt sie: Ob eine Frau riecht, beschnitten oder nicht, liegt an ihrer Hygiene. Eine Entbindung wird schwerer durch eine Beschneidung, weil sich der Geburtskanal kaum weiten lässt. Mädchen sterben durch Beschneidungen. 27 Beschneiderinnen hat Kiwuju mit diesen Argumenten inzwischen umgestimmt.

Kiwuju ist beharrlich, sie war es schon immer.  Als Sechsjährige ließ sie das Vieh der Familie im Busch zurück und meldete sich in der Grundschule an, erzählt sie. Als sie von ihrem ersten Schultag zurückkehrte, waren die Kühe und Ziegen allein nach Hause getrottet – wo ihr wütender Vater bereits mit Prügel auf sie wartete. Dennoch schlich sie sich am nächsten Tag wieder zur Schule. Drei Monate lang verprügelte der Vater sie, sperrte sie ein, verbrannte ihre Hefte und die Schul­uniform, erzählt sie. „Dann wurde er müde, weil ich mich von ihm nicht einschüchtern ließ.“

Vater und Tochter trafen eine Vereinbarung. Kiwuju durfte jeden zweiten Tag zur Schule, wenn sie an den anderen Tagen das Vieh hütete. In der siebten Klasse war sie trotz aller Widrigkeiten Schulbeste. Auf die weiterführende Schule konnte sie dennoch nicht. Ihr Vater tauschte bei einem bestechlichen Beamten vier Kühe gegen eine Bescheinigung: Kiwuju könne nicht zur Secondary School, weil sie gestorben sei. Nach sieben Jahren Kampf hatte er gewonnen.

Drei Jahre lang beobachtete Kiwuju voller Neid, wie ihre ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler ins Internat zogen, während sie zu Hause blieb. Dann erklärte sich ihr Vater bereit zu organisieren, dass sie doch zur weiterführenden Schule gehen könne – wenn sie sich vorher beschneiden lasse. Sie nahm an. 

Drei Wochen lang fühlte sich Kiwuju nach der Beschneidung schwach. Bewegte sie sich, rollte der Schmerz wie eine Welle über sie hinweg. Als es ihr besser ging, warteten junge Männer vor der Hütte auf Kiwuju. Sie trugen das zappelnde Mädchen zum Haus eines Fremden. Ihr Vater hatte Kiwuju angelogen: Statt sie in der weiterführenden Schule anzumelden, hatte er die 16-Jährige verheiratet, an einen Mann in seinem Alter. „Er hatte sofort Sex mit mir. Die Narben von meiner Beschneidung platzten auf, mein Unterleib zerriss“, erzählt Kiwuju. „Es war wie eine Vergewaltigung.“ Bald darauf bekam sie ihr erstes Kind, dann das zweite, das dritte. Seitdem kümmert sie sich um seine Herde, das Haus, die Kinder. Er gab ihr nicht einmal Essen. „Das Leben war so schwer für uns, meine Kinder und ich wären fast verhungert. Von meiner Mutter hatte ich gelernt, wie man beschneidet. Also dachte ich: So kann ich Geld verdienen.“

Björn Rohwer, Hannah Lesch, Astrid Benölken und Tobias Zuttmann sind freie Journalistinnen und haben Enoti Kiwuju bei einer Recherchereise in Tansania getroffen.

Bei ihren Kindern soll das alles anders werden. Kiwuju schüttelt einen blauen Reissack aus. Klimpernd kullern Armbänder, Fußkettchen und Ohrringe auf eine ausgeblichene Plane. Nachts, wenn ihr Mann nicht zu Hause ist, bastelt Kiwuju an einer besseren Zukunft für ihre drei Kinder, vor allem für ihre zwei Töchter. Sie flicht Schnüre, fädelt Perlen auf und biegt Draht zu Ketten, die sie verkauft. Mit dem Geld besorgt sie den Kindern Bücher zum Lernen, damit sie gute Noten in der Schule bekommen. „Sie sollen unabhängig sein und selbst entscheiden können, ob und wen sie heiraten wollen“, sagt sie. Die Freiheit ihrer Töchter bezahlt Kiwuju auch mit ihren eigenen Träumen. Solange sie sich nicht sicher sein kann, dass ihr Mann die Mädchen heimlich beschneiden lässt, bleibt sie bei ihm – auch wenn er sie regelmäßig schlägt, ihr Geld wegnimmt und sie und die Kinder nicht versorgt. 

Wie Kiwuju geht es vielen Beschneiderinnen. Selbst wenn die Frauen nicht mehr beschneiden wollen, können sie sich die Entscheidung aufzuhören kaum leisten. Dort setzen die Aktivistinnen von HIMD an. Geben die Frauen in einer öffentlichen Zeremonie ihre Messer ab und schwören, nie wieder ein Mädchen zu beschneiden, bekommen sie wichtige Informationen über Kleingewerbe und als Starthilfe Hühner geschenkt. Für diese Frauen sind die Hühner zu einem Symbol wirtschaftlicher Unabhängigkeit geworden. Gemeinsam planen sie, wie sie diese weiter ausbauen können – in einer von Kiwuju gegründeten Selbsthilfegruppe für ehemalige Beschneiderinnen. 

Heute treffen die Frauen sich bei der Hütte von Kiwujus Mutter. Der Wind raschelt im nahen Maisfeld, neben der Hütte scharren ein paar Hühner im Sand, sonst ist niemand in der Nähe. Sind die Frauen unter sich, reden sie offen über ihre Vergangenheit. „Wir fühlen uns schuldig“, sagt Enoti Kiwuju. Seit vier Jahren lässt sie dieses Gefühl nicht mehr los. Leichter wird es nur, wenn sie die Tiere ins Gehege sperrt und das nächste Dorf besucht.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2020: Erbe des Kolonialismus
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