Koreanerinnen schweigen nicht länger

Jung Yeon-Je, AFP via Getty Image
Die Staatsanwältin Seo Ji-Hyun hat die #MeToo-Kampagne ins Rollen gebracht.
Sexuelle Belästigung
Die Südkoreanerinnen haben genug davon, heimlich gefilmt und sexuell belästigt zu werden. 2018 hat eine betroffene Staatsanwältin Asiens größte #MeToo-Bewegung losgetreten. Die hat prominente Männer zu Fall gebracht.

Park Won-Soon, der hoch angesehene Bürgermeister von Seoul und einer der aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt Südkoreas, wurde im Juli vergangenen Jahres unweit seiner Wohnung tot im Wald aufgefunden. Er hatte sich offensichtlich das Leben genommen. In Südkorea, dessen Gesellschaft von hohem Konkurrenzdruck geprägt ist, machen Suizide prominenter Persönlichkeiten häufig Schlagzeilen. Das Land hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt; zu den Gründen gehören die Tabuisierung psychischer Probleme und die tiefreichende Schamkultur. Doch der Tod von Park, des am längsten amtierenden Bürgermeisters der südkoreanischen Hauptstadt, rückte etwas anderes ins Rampenlicht: das immer noch fest verwurzelte Patriarchat und den beispiellosen Widerstand der Frauen dagegen. Am Tag, bevor sich Park das Leben nahm, hatte eine Mitarbeiterin ihn wegen jahrelanger sexueller Belästigung angezeigt. Und es stand zu erwarten, dass die Öffentlichkeit das Leben des früheren Menschenrechtsaktivisten, der sich gern als Feministen darstellte, gnadenlos unter die Lupe nehmen würde. 

Parks Fall ist nur der jüngste im Zusammenhang mit der mächtigen #MeToo-Bewegung, die seit 2018 so erfolgreich wie in kaum in einem anderen Land Asiens durch Südkorea fegt. Seit sie im Oktober 2017 in den USA ihren Anfang nahm, hat sie nach und nach auch Asien erfasst. Von China bis Indien begannen Frauen, die Gewalt und Diskriminierung, der sie tagtäglich ausgesetzt sind, öffentlich zur Sprache zu bringen. 

Popstars und Politiker gerieten in Verruf 

In Südkorea hat der von der #MeToo-Bewegung entfesselte Sturm in der Gesellschaft bislang nicht nur zwei aussichtsreiche Bewerber für das Präsidentenamt zu Fall gebracht. Auch der bekannte, mit zahlreichen europäischen Preisen ausgezeichnete Filmregisseur Kim Ki-Duk, der Dichter Ko Un, der mehrfach für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde, sowie Stars des K-Pop und des asiatischen Films gerieten in Verruf, um nur einige Beispiele zu nennen. Allen wurden sexuelle Verfehlungen vorgeworfen, von anzüglichen Bemerkungen über körperliche Belästigung bis hin zu Vergewaltigung. Etliche mussten sich vor Gericht verantworten. Die Gedichte von Ko Un wurden aus den Schulbüchern getilgt. Kim Ki-Duk verschwand aus dem öffentlichen Leben Südkoreas und konnte in seiner Heimat keine Filme mehr drehen; Ende 2020 ist er gestorben.

Die Demonstrationen gegen heimliche Intimaufnahmen und sexuelle Belästigung, hier im Juni 2018 in Seoul, haben sich zu den größten Frauenprotesten entwickelt, die Südkorea je gesehen hat.

2018 gingen Zehntausende Frauen über Monate auf die Straße, um gegen die weitverbreitete Unsitte heimlicher Intimaufnahmen mit sogenannten Spycams zu protestieren. Meist handelt es sich um das sogenannte „Upskirting“, bei dem Frauen heimlich mit der Kamera unter den Rock geschaut wird, auch in öffentlichen Toiletten. Die Ergebnisse werden zur „Unterhaltung“ ins Internet gestellt, teilweise wird damit sogar Geld verdient. 

Kampagnen in den sozialen Medien gegen diese Form der Hightech-Ausbeutung von Frauen haben mittlerweile so viel Druck erzeugt, dass es 2020 einschneidende Gesetzesänderungen gab. Wer heimlich produzierte intime Bilder von Frauen oder sogenannte „Rachepornos“ herunterlädt und konsumiert, kann dafür mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden.

„Es war, als würden sich die Schleusen öffnen, die all unsere aufgestaute Wut mit einem Mal freisetzen“, berichtet Seo Ji-Hyun, eine hochrangige südkoreanische Staatsanwältin, die die #MeToo-Kampagne ins Rollen gebracht hatte. Im Jahr 2018 erschien die 47-Jährige live in den Fernsehnachrichten und schilderte, wie sie während einer Trauerfeier von einem Vorgesetzten unsittlich berührt und jahrelang in einer der mächtigsten Behörden des Landes, der Staatsanwaltschaft von Südkorea, sexuell belästigt wurde.

Damit begann die Mauer des Schweigens zu bröckeln. Dutzende Frauen fanden den Mut, die sexuellen Vergehen mächtiger Männer öffentlich zu machen – ein klarer Bruch mit der Vergangenheit, in der die Opfer sexueller Gewalt aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung meist unerkannt bleiben wollten. Zu den Männern, gegen die solche Vorwürfe erhoben wurden, gehört auch Ahn Hee-Jung, ein populärer linker Politiker, den viele gerne als Präsidenten gesehen hätten. Nun verbüßt er eine Haftstrafe wegen der mehrfachen Vergewaltigung einer Mitarbeiterin.

Schlechte Bilanz bei Frauenrechten

Autorin

Hawon Jung

hat früher als Korrespondentin der Nachrichtenagentur AFP in Südkorea gearbeitet. Derzeit schreibt sie ein Buch über die feministische Revolution in Südkorea.
Für Seo und viele andere Frauen war es ein überfälliger Moment des Erwachens. Südkorea ist die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Es ist Heimat von Technologiegiganten wie Samsung, hat eine lebendige Popkultur mit internationalen Stars wie der Boyband BTS und Bong Joon-Ho, dem Regisseur des oscarprämierten Films „Parasite“. Doch wenn es um die Rechte der Frauen geht, fällt die Bilanz schlecht aus. Im Global Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums, einem jährlich erscheinenden Bericht, der die Gleichstellung der Geschlechter analysiert, findet man Südkorea als Nummer 108 noch hinter Ländern wie Nepal und Kambodscha (Deutschland rangiert derzeit auf Platz 10). 

Frauen verdienen in Südkorea im Durchschnitt 35 Prozent weniger als Männer, das ist die größte Differenz in allen Ländern in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In diese Zahl fließt ein, dass Frauen zum einen für die gleiche Arbeit geringer entlohnt werden, aber auch zum anderen generell niedriger bezahlte Tätigkeiten ausüben. Seit zwei Jahrzehnten bildet Südkorea im jährlichen OECD-Bericht in dieser Hinsicht das Schlusslicht. In Deutschland beträgt dieses Lohngefälle 16 Prozent. 

"Seit Jahren hat sich eine enorme Frustration angestaut"

In Südkorea sind auch nur drei Prozent der Vorstandsposten großer Unternehmen mit Frauen besetzt, weniger als in Pakistan. Nur 19 Prozent der Parlamentsabgeordneten sind Frauen – hier liegt das Land auf Platz 118, fast auf dem Niveau von Nordkorea, dem verarmten, von einem Diktator geführten Nachbarland. Und laut einer Umfrage hat die Hälfte aller Frauen in Südkorea Erfahrung mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.

„Seit Jahren hat sich hier eine enorme Frustration angestaut ... und #MeToo bot uns den perfekten Katalysator, unserer Empörung Luft zu verschaffen“, sagt mir Seo. Ein gestiegenes Bewusstsein der eigenen politischen Möglichkeiten hat sicherlich auch eine Rolle gespielt. Während des gesamten Jahres 2016 bis Anfang 2017 hatten Millionen Südkoreaner und Südkoreanerinnen mit Kerzen auf den Straßen für die Absetzung der korrupten Präsidentin Park Geun-Hye demonstriert. Schließlich hatte diese „Kerzenlicht-Revolution“ Erfolg. Park sitzt inzwischen wegen Korruption im Gefängnis.

Doch trotz dieses vielfach bejubelten historischen Siegs der Demokratie hielten die Ungerechtigkeiten und die Ungleichheit, die Frauen in ihrem täglichen Leben erfuhren, unvermindert an. „Männer und Frauen protestierten gemeinsam auf der Straße und feierten die Macht des Volkes und den Sieg der Demokratie. Aber kaum hatte sich der Staub gelegt, erledigten Frauen wieder den größten Teil der Hausarbeit, erfuhren die altbekannte Diskriminierung am Arbeitsplatz und waren wie eh und je im Alltag mit sexueller Belästigung und Gewalt konfrontiert“, konstatiert Seo. „Viele Frauen wie ich dachten: Wo bleibt die Demokratie in unserem Alltag?“, sagt sie – zumal, wie sie betont, die Bewegung oft auch als „Kerzenlicht-Revolution der Frauen“ bezeichnet wird.

#MeToo-Bewegung auch in anderen asiatischen Ländern

Shin Ki-Young ist Professorin am Institut für Gender Studies an der Frauenuniversität Ochanomizu in Tokyo und beobachtet die Entwicklung der #MeToo-Bewegung weltweit und besonders in Ostasien. Auch sie ist der Ansicht, dass der Aufschwung der Bewegung in Südkorea ein Jahr nach den Massenprotesten kein Zufall war. Anders lief es in Japan, das zwar als wirtschaftlich und technologisch fortschrittliche Nation viele Ähnlichkeiten mit Südkorea aufweist, wo aber das Patriarchat noch weniger infrage gestellt wird. 

„Zumindest was die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und sexuelle Gewalt betrifft, ist die Situation in Japan keineswegs besser als die in Südkorea – vielleicht ist sie sogar schlechter. Trotzdem hat die #MeToo-Bewegung in Japan vergleichsweise wenig bewirkt“, sagt Shin. Das liegt ihrer Meinung nach am hohen Konformitätsdruck der japanischen Gesellschaft, der es Frauen erschwert, an die Öffentlichkeit zu treten, weil dies als Störung der gesellschaftlichen Harmonie gewertet wird. „In Südkorea wirkte noch der Energieschub des politischen Aufbruchs von 2017 nach, den es so in Japan nicht gegeben hat.“ 

Auch in China gab es 2018 eine Welle, in der sich Menschen in den sozialen Medien zu Wort meldeten, und an Universitäten tauchten Wandzeitungen auf – junge Frauen, meist Studentinnen, brachen das Thema sexuelle Gewalt zur Sprache. Schon kamen Hoffnungen auf, dass die #MeToo-Bewegung auf das ganze Land übergreifen könnte. Allerdings blieb ihr Einfluss unter der wachsamen Zensur und angesichts des harten Durchgreifens der kommunistischen Partei, die bekanntlich wenig Toleranz für Unmutsäußerungen ihrer Bürger besitzt, ziemlich begrenzt. Den Unterschied sieht Shin hauptsächlich darin, dass Südkorea demokratisch verfasst und das Internet dort weitgehend frei von staatlicher Zensur ist. All dies hat dazu beigetragen, dass die #MeToo-Bewegung in Südkorea viel erfolgreicher war als in anderen Ländern der Region. „So wurde Südkorea zum Vorbild der Region dafür, wie Frauen erfolgreich gegen das Patriarchat kämpfen können“, sagt Shin. Einige prominente japanischen Feministinnen hätten öffentlich erklärt, von Südkorea inspiriert zu sein. 

Journalistinnen decken geheime Chatrooms auf

Auch zwei Jahre später ist die Bewegung noch stark. Derzeit haben die beiden größten Städte Südkoreas – Seoul und Busan – keinen Bürgermeister, nachdem Park sich das Leben genommen hat und der Bürgermeister von Busan, Oh Geo-Don, aufgrund von Belästigungsvorwürfen einer Mitarbeiterin zurückgetreten ist. 

Unterdessen haben zwei Journalistikstudentinnen nach monatelangen Recherchen ein riesiges, über den Messengerdienst Telegram betriebenes Netzwerk von Chatrooms aufgedeckt, in dem junge Mädchen und Frauen sexuell erpresst und ausgebeutet wurden. Die Empörung im Land über diese Art von Sexualverbrechen im Cyberspace war groß. Die Medien verglichen den Fall mit dem großen Netzwerk von Pädophilen mit seinen über 30.000 Nutzern, das im Juni in Deutschland aufgeflogen war. Auch in Südkorea hatten Zehntausende zahlende Mitglieder von Chatrooms, fast ausschließlich Männer, Videos von Dutzenden Frauen und minderjährigen Mädchen konsumiert, die sie als „Sklavinnen“ bezeichneten. Diese Frauen wurden in den Videos zu demütigenden sexuellen Handlungen gezwungen, und einige von ihnen wurden sogar von Bekannten des Chatroom-Operators vergewaltigt. Diese Vergewaltigungen wurden per Kamera gefilmt und mit den Nutzern der Chatrooms geteilt. Inzwischen wurden fast 2000 Verfahren gegen Betreiber und Nutzer der Chatrooms eingeleitet. Der Hauptverantwortliche der Chatrooms wurde inzwischen zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt.

Aber so schockierend diese Enthüllung sein mag, in einer Gesellschaft, in der Frauen immer noch wie selbstverständlich als Objekte behandelt werden, ist dies nach Ansicht der beiden Journalistinnen, die sich als Team Flame bezeichnen, „kaum anders zu erwarten“. Beide wollen zum Schutz ihrer Persönlichkeit anonym bleiben. „Die Wut über diese Realität macht Frauen wie uns zu Kämpferinnen“, sagen sie. „Die Realität liefert jeden Tag neuen Zündstoff … das Feuer ist noch lange nicht erloschen.“

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2021: Gesundheit weltweit schützen
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