Auf die lokalen Schlichter setzen

dpa/picture alliance
Clan-Älteste, hier bei einem Treffen in Belet Huen, regeln Konflikte auf lokaler Ebene. Können sie einen Dialog mit al-Shabaab anstoßen?
Somalia
Der Krieg in Somalia kann nicht beigelegt werden, ohne mit der Terrormiliz al-Shabaab zu verhandeln. Mit Hilfe von Clan-Ältesten können solche Gespräche angebahnt werden, wenn auch die Terrorbekämpfung überdacht wird.

Somalia leidet seit 14 Jahren unter der tödlichsten Aufstandsbewegung der Welt. Die im Bündnis mit al-Qaida stehenden al-Shabaab-Milizen und die somalische Regierung liefern sich blutige Gefechte. Zehntausende Menschen haben dabei ihr Leben verloren, ohne dass eine Seite die andere wesentlich geschwächt oder nennenswerte Geländegewinne erzielt hätte. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Nach wie vor verfolgt al-Shabaab das Ziel, die Macht in Somalia zu übernehmen. Dazu strebt die Miliz den Sturz der vom Westen geführten Regierung an und will sämtliche ausländischen Streitkräfte aus dem Land vertreiben. Bislang ist die somalische Regierung stark auf ausländische Unterstützung angewiesen, um Stabilität und Wiederaufbau anzustreben.

Studien haben gezeigt, dass Terrorgruppen am ehesten auseinanderfallen, wenn es zu einer politischen Einigung kommt (43 Prozent) oder die Strafverfolgung erfolgreich ist (40 Prozent). Sie militärisch zu bekämpfen ist nur selten erfolgreich. Daher drängen Experten die somalische Regierung, den Dialog mit al-Shabaab aufzunehmen. Die einen empfehlen, Verhandlungen mit moderaten Kräften der Gruppe zu versuchen, die anderen raten, einen muslimischen Staat als Vermittler einzuschalten.

Al-Shabaab hat Gespräche mit der Regierung abgelehnt

Seit 2009 haben verschiedene Regierungen in Mogadischu ihre Bereitschaft zu direkten Gesprächen signalisiert, doch bisher hat al-Shabaab all diese Versuche brüsk abgelehnt. Die Terrororganisation sieht in der somalischen Regierung ein „kriminelles Regime”, das „den Pfad des Islam verlassen“ habe. Die Gruppe setzt ihre Angriffe unvermindert fort; im Januar 2021 verübte sie einen Anschlag auf ein Hotel in Mogadischu, im Februar wurde Dhuusamarreeb, eine Stadt in Zentral-Somalia, mit Mörsern beschossen. Wie kann man Verhandlungen mit einer Gruppe aufnehmen, die keinerlei Kompromissbereitschaft zeigt?

Autor

Mohammed Ibrahim Shire

lehrt am Institut für Strafrecht an der Universität Portsmouth und forscht interdisziplinär zu Terrorismus und politischer Gewalt in Afrika. Er ist Mitgründer von Somali Faces (www.somalifaces.org), das für soziale Gerechtigkeit in Somalia eintritt.
Der Frage bin ich im Rahmen einer Studie nachgegangen, für die ich Interviews geführt habe mit den einzigen somalischen Beteiligten, die sowohl zur Regierung als auch auf lokaler Ebene zu al-Shabaab in Kontakt stehen: Clan-Ältesten. In der somalischen Kultur besitzen sie unbestrittene Autorität und große Entscheidungsfreiheit. Mit sieben von ihnen und 27 ehemaligen al-Shabaab-Mitgliedern, teils Kommandeure mittleren Ranges, teils einfache Kämpfer, konnte ich ausführlich sprechen.

Danach lehnt al-Shabaab zwar einen Dialog auf nationaler Ebene ab, verhandelt aber unter Vermittlung von Clan-Ältesten häufig über lokale Angelegenheiten mit der Regierung und anderen Stellen. Dabei geht es mal um die Aushandlung eines kurzzeitigen Waffenstillstands, mal um die Freilassung von Geiseln oder die Verteilung von Hilfsgütern in von den Milizen kontrollierten Gebieten. Diese Vermittlung auf lokaler Ebene ist möglich, weil die Clan-Ältesten bei allen Konfliktparteien hohes Ansehen und Glaubwürdigkeit genießen. Sie sind in der Lage, von sich aus mit al-Shabaab Kontakt aufzunehmen und beiden Seiten zu einem besseren Verständnis ihrer gegenseitigen Forderungen, Interessen und Erwartungen zu verhelfen. So könnte die somalische Regierung mit Hilfe von Clan-Ältesten den Widerstand von al-Shabaab gegen Gespräche aufweichen.

Eine ehemalige Jugendbewegung

Al-Shabaab entstand als Jugendbewegung und radikaler Flügel der Union islamischer Gerichte, die bis 2006 den Südosten Somalias weitgehend kontrollierte. Ende 2006 wurde die Union von Truppen der Übergangsregierung Somalias mit Unterstützung äthiopischer Verbände besiegt und zerfiel in Splittergruppen. Anfang 2007 meldete sich al-Shabaab mit dem Anspruch zurück, als nationale Aufstandsbewegung die Somalier im Kampf gegen die äthiopischen Besatzungstruppen zu einen.

Anfangs nutzte al-Shabaab nationalistische Rhetorik und unterhielt, anders als oft dargestellt, keine Verbindungen zu al-Qaida. Ihr charismatischer Militärführer Aden Hashi Farah Ayro vermied bei seinen seltenen öffentlichen Auftritten bewusst jeden Bezug auf die islamistische Terror­organisation. Die äthiopische Besatzung verschaffte der Gruppierung genügend Legitimität, die Öffentlichkeit stand überwiegend auf ihrer Seite. Damals war al-Shabaab offen für Verhandlungen. Als Bedingung forderte sie allerdings den vollständigen und bedingungslosen Abzug der äthiopischen Truppen. Die Regierung, die nur fünf Prozent des Territoriums kontrollierte und in jeder Hinsicht von Äthiopien abhängig war, lehnte diese Bedingungen und alle Zugeständnisse kategorisch ab. So wurde eine historische Chance vertan.

Nach dem Tod von Ayro bei einem US-Raketenangriff im Jahr 2008 übernahmen Mitglieder von al-Qaida wichtige Posten in der Kommandostruktur von al-Shabaab. Innerhalb kurzer Zeit wandelte sich die Organisation von einer lokalen nationalistischen Bewegung zu einer an al-Qaida ausgerichteten Terrororganisation, die in ganz Somalia Anschläge verübte. Unter ihrem neuen Führer Ahmed Abdi Godane lautete die kompromisslose Parole nun, keine Verhandlungen mit der „vom Glauben abgefallenen” Regierung zu führen – die müsse entweder kapitulieren oder werde vernichtet.

Ende Mai 2008 demonstrieren Kämpfer von al-Shabaab Stärke, während im benachbarten Dschibuti Friedensgespräche zwischen Somalias Regierung, Clan-­Ältesten und gemäßigten Islamisten starten.

Äthiopien hat 2009 nach mehr als zwei Jahren blutiger Besatzung seine Soldaten abgezogen, ohne den Aufstand von al-Shabaab eindämmen zu können. Seitdem hat Somalia mehrere friedliche Machtwechsel in Mogadischu erlebt. Doch keiner Regierung ist es gelungen, Verhandlungen mit al-Shabaab näher zu bringen, obwohl es an Versuchen nicht gefehlt hat. Sofern sie überhaupt reagierte, lehnte die Miliz schroff ab. Auch nach dem Tod von Godane im Jahr 2014, ebenfalls in einem amerikanischen Luftangriff, und der Machtübernahme seines Schützlings Ahmed Diriye hat sich daran nichts geändert. Beide Seiten stecken in einem Patt. Ein neuer Ansatz ist dringend nötig.

Die Somalis haben eine gemeinsame Kultur, Sprache und Religion, aber sie sind in viele Clans oder Verwandtschaftsgruppen zersplittert, die sich auf gemeinsame Vorfahren zurückführen. Die gute Seite des Clan-Systems ist, dass es starke, schützende Sozialverbände bringt. Die Kehrseite ist allerdings, dass es zu Konflikten und Blutvergießen zwischen Clans als politischen Einheiten führen kann.

Die Clan-Warlords befrieden Somalia nicht

Seit Jahrzehnten ist Somalia von Konflikten und Chaos gekennzeichnet, die von rivalisierenden Warlords und extremistischen Gruppen ausgehen. Vermittler von außen haben viele Versuche unternommen, dem Land aus der Krise zu helfen, zum Beispiel mit mehr als einem Dutzend internationaler Versöhnungskonferenzen außerhalb Somalias. Sie setzten aber vor allem auf die Warlords der Clans, meist ehemalige Offiziere. Aufgrund ihrer militärischen Macht galten die als einzige Gruppe, die Somalia dauerhaft befrieden könnte. 

Doch auf lokaler Ebene haben die Clan-Ältesten mit traditioneller somalischer Konfliktlösung, Xeer genannt, das Fehlen eines Staates ausgeglichen und für Sicherheit gesorgt. Xeer ist ein traditionelles System, das die Mehrheit der Bevölkerung schon vor der Kolonialzeit nutzte, um Konflikte zu schlichten. In der traditionellen somalischen Gesellschaft gelten Klan-Älteste als Brückenbauer, die Dialog ermöglichen und Lösungen eröffnen. Diese Rolle spielen sie auch heute beim Wiederaufbau Somalias.

Im Herbst 2019 greift al-Sha­baab einen Stützpunkt der US-Armee bei Mogadischu an und hinterlässt ein Trümmerfeld.

Noch wichtiger ist, dass sie in Konfliktzeiten als wichtigste Vermittler innerhalb und zwischen Clans einen geschützten Status haben. Als einzige für die Regierung eintretende Personengruppe verhandeln sie mit al-Shabaab über Dinge, die die gesamte somalische Gesellschaft betreffen, ohne Repressionen fürchten zu müssen.

Schon vor dem Auftauchen von al-Shabaab spielten die Clan-Ältesten eine wichtige vermittelnde Rolle auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene. Sie verschafften den kriegsmüden Einwohnern von Mogadischu kurze Verschnaufpausen, indem sie immer wieder Waffenstillstände zwischen Warlords aushandelten. Sie haben es auch mehrmals geschafft, einen Waffenstillstand zwischen den al-Shabaab-Milizen und der somalischen Regierung auszuhandeln. Als etwa al-Shabaab 2016 die Stadt Gal’ad von der Regierung erobert hatte und drohte, mehrere Hundert gefangene Regierungssoldaten öffentlich hinzurichten, konnten die Ältesten der Stadt das Massaker verhindern. Clan-Älteste erreichten auch die Freilassung einheimischer oder ausländischer Entführter – zum Beispiel Anfang 2012, als al-Shabaab zwei kenianische Regierungsangestellte aus Gerile in Kenia verschleppt hatte. Die kenianische Regierung weigerte sich, direkt mit al-Shabaab zu verhandeln, beauftragte aber Clan-Älteste damit, die Freilassung zu erwirken.

Clan-Älteste sind erfahrene Vermittler

Auch bei der Verteilung von Hilfsgütern in von al-Shabaab kontrollierten Gebieten haben Clan-Älteste immer wieder eine wichtige Rolle übernommen. Die Hungersnot von 2011 wurde erheblich verschärft, weil al-Shabaab Hilfslieferungen blockierte. Ein Clan-Ältester bemerkte, damals gingen Älteste „zu Mukhtar Robow“, dem zweiten Mann von al-Shabaab, „und übten erheblichen Druck auf ihn aus, zu verhandeln und die internationalen Hilfsorganisationen zu den vom Tod bedrohten Menschen durchzulassen. Er gestattete das schließlich, obwohl es der Politik seiner Gruppe widersprach.” Auch während der extremen Dürre von 2017 griffen Hilfsorganisationen und staatliche Stellen auf Clan-Älteste als Vermittler zurück, um dringend benötigte Güter zu den Notleidenden bringen zu können.

Es ist unbedingt erforderlich, mit al-Shabaab ins Gespräch zu kommen, denn die Gruppe hat sich als äußerst langlebig erwiesen. Nach Ansicht eines Terrorismusexperten sind Verhandlungen mit al-Qaida schwierig, aber die Gruppe ist nicht monolithisch. Einige al- Qaida angeschlossene Gruppen verfolgten oft lokale politische Ziele. Tatsächlich hat sich al-Shabaab nach dem Tod von Godane im Jahr 2014 und dem Abzug der ausländischen Truppen bewusst stärker somalischen Belangen zugewandt. So hat sie während der Dürre von 2017 in betroffenen Regionen Hilfe verteilt, Komitees für die Koordination von Hilfsmaßnahmen geschaffen und Bauern beim Bau von Bewässerungsanlagen unterstützt, um Vertrauen bei der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Al-Shabaab macht inzwischen auch regelmäßig durchgeplante Auftritte in Städten, auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten, und verteilt Almosen (Zakat) an Tausende Arme. Al-Kataib, die Propaganda-Abteilung von al-Shabaab, hat jüngst eine sechsteilige Dokumentation über die Regierungsarbeit von Präsident Mohamed Abdullahi Mohamed veröffentlicht. All das deutet darauf hin, dass al-Shabaab sich stärker als bisher als lokale Kraft ausrichtet.

Informelle Gespräche sind nötig

Genau deshalb ist ein auf lokale Umstände abgestimmter Verhandlungsansatz nötig. Da die Clan-Ältesten sowohl von al-Shabaab als auch von der somalischen Regierung als glaubwürdig, legitim und aufrichtig geschätzt werden, wären sie nach Ansicht vieler meiner Gesprächspartner in der Lage, informelle Gespräche in Gang zu bringen. Die könnten in einen breiteren politischen Dialog und am Ende womöglich in direkte Verhandlungen münden.

Nicht zu unterschätzen ist, dass al-Shabaab sich in solchen informellen Gesprächen mit den Absichten der somalischen Regierung vertraut machen und sehen würde, wo sie Zugeständnisse macht. Zu Beginn wären Zugeständnisse von beiden Seiten nötig. Wenn aus informellen Gesprächen dann Verhandlungen werden, wird al-Shabaab sicher von einigen anfänglichen extremen Forderungen abrücken. 

Allerdings wird sie sicher weiterhin einen Abzug der Soldaten der Afrikanischen Union und anderer ausländischer Friedenstruppen verlangen. Darauf wird sich die somalische Regierung einlassen müssen, wenn sie einen dauerhaften Friedensschluss erreichen möchte. Damit wäre der Weg zu einer neuen Einheitsregierung frei, wie es sie schon einmal 2009 gegeben hat: Damals schlossen Gemäßigte in der Union islamischer Gerichte ein Abkommen mit der Übergangsregierung, das zum Abzug der äthiopischen Soldaten führte.

Hardliner werden Friedensgespräche sabotieren

Doch es gibt einige Hürden. Erstens werden Hardliner innerhalb der al-Shabaab sicherlich versuchen, eine solche Entwicklung zu sabotieren. Zweitens ist es für die Clan-Ältesten gefährlich, sich unter den geltenden, undurchsichtigen nationalen und internationalen Anti-Terror-Gesetzen mit al-Shabaab einzulassen. Clan-Älteste, die sich in von al-Shabaab kontrollierten Gebiete begeben, können leicht in Verdacht geraten, mit der Terrormiliz gemeinsame Sache zu machen. Zum Beispiel wurde im April letzten Jahres ein Clan-Ältester aus Jareerweyne bei einem Luftangriff der USA in der Region Jubbada Hoose getötet. Al-Shabaab behauptete, das Opfer sei ein traditioneller Clan-Ältester gewesen, während die USA darauf beharrten, dass er ein Terrorist war. Eine schrittweise Lockerung von Sanktionen, Vorschriften und Gesetzen sollte Clan-Ältesten erleichtern, einen Dialog einzuleiten.

Die militärische Strategie gegen al-Shabaab zurückzunehmen, würde eine förderliche Atmosphäre schaffen. Auch al-Shabaab sollte Schritte tun, die Gewalt zu verringern, wenn Gespräche anlaufen, und Angriffe mit dem Beginn formeller Verhandlungen vollständig einstellen. Eine Koalition westlicher Staaten und in Somalia engagierter muslimischer Länder – etwa der USA, der EU, der Türkei, Saudi-Arabiens und Katars – könnte eine entscheidende Rolle für die Beseitigung der Hindernisse spielen, etwa die Sanktionen lockern und die Luftangriffe verringern. Wenn diese Länder dann noch einen Ort für formelle Gespräche anbieten, könnten aus Vorgesprächen echte Verhandlungen werden.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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