Verdrängt und unerwünscht

Zum Thema
Emran Feroz
Mir Ahmad und sein Onkel Habibullah in dessen Lehmhaus in Kabul. Dort gehört Habibullah zu den Ältesten der Jogi. 
Jogi in Afghanistan
Die Minderheit der Jogi hat in Afghanistan eine ähnliche Rolle wie in Europa Sinti und Roma: ausgegrenzt, ein Ziel von Vorurteilen – und überdies oft staatenlos.

Habibullah, Mitte 70, sitzt in seinem kleinen Lehmhaus und wiegt seine Tochter in den Schlaf. Vor wenigen Jahren ist seine erste Frau gestorben. Die Ehe war kinderlos. Vor rund zwei Jahren heiratete Habibullah erneut, neun Monate später wurde er Vater. Obwohl er heute greise und krank ist, bereitet ihm die Vaterrolle Freude. 

Habibullah trägt den Beinamen „Jogi“ und ist einer der Ältesten der gleichnamigen Gemeinschaft. Dies ist eine kleine Minderheit, die vor allem in Norden Afghanistans verbreitet ist. Schätzungen zufolge leben heute zwischen 20.000 und 30.000 Jogi in Afghanistan – viele als Tagelöhner, Hellseher, Bettler, Musiker oder Heilpraktiker. Ihr Status in der afghanischen Gesellschaft ist mit jenem von Roma und Sinti in Europa vergleichbar. Meist leben die Jogi marginalisiert und abgeschieden. Seit Jahrzehnten verwehrt ihnen der afghanische Staat grundlegende Rechte. 

Auch in Kabul, wo es einige Jogi-Siedlungen gibt, lässt sich das beobachten. Habibullahs Siedlung liegt im Geflüchtetenlager Charahi Qambar im Westen der Stadt. Hier fließt weder Strom, noch gibt es Sanitäranlagen oder fließendes Wasser. In den vergangenen Wintern sind manche Bewohner erfroren. Rund 350 Jogi-Familien leben hier; sie stammen hauptsächlich aus den nördlichen Provinzen Takhar, Balkh, Kundus oder Baghlan, Habibullahs Geburtsort.

Noch immer nicht als Bürger Afghanistans anerkannt: Kinder in einer Jogi-Siedlung in Kabul.

Die Jogi sind allerdings keine Binnenflüchtlinge, sondern Menschen ohne Grund und Boden. Einst waren sie ein wanderndes Volk, das kein sesshaftes Leben pflegte. Mittlerweile hat sich das geändert. In Charahi Qambar wurden Habibullah und andere Familien vor vierzehn Jahren ansässig. Doch Jogi sind nicht die einzigen im Lager. Hinzu kommen Hunderte Familien aus der südlichen Provinz Helmand, hauptsächlich Paschtunen, die von den Kämpfen und Militär­operationen in ihrer Heimatprovinz vertrieben wurden. 

Bis heute gibt es im Parlament keinen Vertreter der Jogi

Zwischen den Paschtunen aus Helmand und den Jogi sind Spannungen deutlich erkennbar. Während die Helmandis zahlreiche Grundstücke im Geflüchtetenlager für sich beschlagnahmt und zum Teil große Häuser errichtet haben, geraten die Jogi zunehmend unter Druck. Sie leben in kleinen Lehmhäusern oder Zelten, werden drangsaliert und schikaniert. „Wir haben hier nichts zu sagen, weil wir keine politischen Vertreter haben. Die Helmandis hingegen sind Paschtunen, so wie unser Präsident. Die holen sich, was sie wollen“, sagt Mir Ahmad, ein Neffe Habibullahs. Er verdient sein Geld als Vogelhändler. Bis heute gibt es im afghanischen Parlament keinen Vertreter der Jogi. 

Autor

Emran Feroz

ist freier Journalist und Autor des Buches „Der längste Krieg“ über den „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan.
Das Hauptproblem der Jogi ist, dass die meisten keine Dokumente besitzen und vom Staat nicht als rechtmäßige Bürger anerkannt werden. Sprüche wie „Geh dahin, wo du herkommst“ hört Mir Ahmad nicht selten. Manchmal verweigern ihm Taxifahrer die Fahrt, sobald sie erfahren, dass er ein Jogi ist. Vor vielen seiner Freunde versteckt er seine Jogi-Identität. „Sie haben die wildesten Vorstellungen und denken, wir seien keine Muslime und würden Leichen essen“, erzählt er bedrückt. 

Ähnlich wie andere Jogi ist Habibullahs Großvater vor rund 130 Jahren aus der heute in Usbekistan liegenden Provinz Buchara nach Afghanistan gekommen. Die Familie wurde im Norden Afghanistans sesshaft und in Baghlan, in einer Ortschaft nahe der Provinzhauptstadt Pol-e Khomri, kam Habibullah auf die Welt. Der Status der Jogi war auch zum damaligen Zeitpunkt ungeklärt. Da die afghanische Bürokratie damals in den Kinderschuhen steckte, zeigte man nur begrenztes Interesse an der Herkunft der Menschen. Immerhin: „Es gab keine Probleme“, sagt Habibullah und findet lobende Worte für Mohammad Daoud Khan, den ersten und letzten Präsidenten der afghanischen Republik von 1973 bis 1978. Er habe sich um alle Afghanen gleichermaßen gesorgt und ethnische oder geografische Hintergründe beiseitegedrängt, um das Gefühl der nationalen Einheit zu verstärken. Davon profitierten auch die Jogi. 

Im April 1978 führten die afghanischen Kommunisten einen blutigen Staatsstreich durch. Khan wurde mitsamt seiner Familie ermordet und eine Schreckensherrschaft begann, wie sie Afghanistan lange nicht mehr erlebt hatte. Weihnachten 1979 marschierte die Sowjetunion ein. Der damals dreißigjährige Habibullah schloss sich dem Widerstand an und kämpfte auf seiten der Mudschaheddin-Partei Jamiat-e Islami. Damals erhielt er erstmals ein Dokument, mit dem er sich ausweisen konnte: eine Mitgliedskarte der Jamiat-e Islami. „Wir haben für dieses Land gekämpft und es gegen die Sowjets verteidigt. Doch bis heute werden wir nicht wirklich anerkannt“, sagt Habibullah. 

Die meisten Jogi besitzen keine offiziellen Dokumente

Während des Dschihad, des Kampfes der Mudschaheddin gegen die Sowjets, musste Habibullah fliehen. Er reiste in den Iran und lebte die nächsten zwei Jahrzehnte in der Hafenstadt Bandar Abbas, wo er als Händler tätig war. Später bemerkte er, dass seine einstigen Mudschaheddin-Führer kein Interesse für das Schicksal seiner Gemeinschaft zeigten. Dabei handelt es sich auch bei den Jogi, so wie bei der Mehrheit Afghanistans, um Muslime, die ihren Glauben seit Jahrhunderten praktizieren.

Vor rund sechs Jahren erhielt Habibullah zum ersten Mal eine Tazkira, eine afghanische Geburtsurkunde. Ein Ausnahmefall: Die meisten anderen Jogi besitzen weiterhin keine oder bloß wertlose inoffizielle Dokumente. Da diese Menschen praktisch staatenlos sind, haben sie kaum Zugang zum Bildungswesen, zum Arbeitsmarkt oder zum Gesundheitssystem. Einige wenige Beobachter, die sich mit dem Schicksal der Jogi auseinandersetzen, sprechen von institutioneller Diskriminierung. 

Dabei weiß selbst Präsident Ashraf Ghani von all den genannten Problemen. 2014 besuchte er während seines Wahlkampfs die Siedlung Habibullahs und sicherte ihm im Gegenzug für Wahlstimmen politische Unterstützung und Anerkennung zu. „Ich gebe euch mein Ehrenwort. Ihr seid Afghanen wie ich, Bürger dieses Landes“, sagte er damals. „Wir haben ihn gewählt, doch er hat sein Wort nicht gehalten“, sagt Habibullah heute. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden in Afghanistan 2014 und 2019 statt. In beiden Fällen gingen politische Eliten perfide vor, um sich die Stimmen der Jogi zu sichern. So verteilte man etwa Dokumente, die einen Schritt zur Urne ermöglichten, während Geburtsurkunden weiterhin zurückgehalten wurden.  

„Jogi“ wird im afghanischen Kontext oftmals abwertend verwendet. Herkunft und Bedeutung des Namens sind weitgehend unbekannt. Es handelt sich weder um eine ethnische noch um eine linguistische Bezeichnung. Laut Habibullah stammt sie von dem persischen Wort „shloog“ ab, was „Blutegel“ bedeutet. Die Usbeken machten daraus „jog“ und bezogen sich, so Habibullah, auf seine Vorfahren, eine Art Heilpraktiker, die Menschen mit Blutegeln behandelten.

Die genaue Herkunft der Jogi ist bis heute ungeklärt. Die meisten Forscher gehen von iranischen oder indischen Wurzeln aus und betonen immer wieder, dass man sich auf die mündlichen Überlieferungen des Volkes konzentrieren müsse. Für Habibullah, Mir Ahmad und andere Jogi sind derartige Details heute kaum wichtig. „Wir haben auch Verwandte in Tadschikis­tan. Sie wollen, dass wir zu ihnen ziehen. Wir lieben allerdings Afghanistan. Das ist auch unser Land. Es wäre allerdings schön, hier endlich auch anerkannt zu werden, damit wir unseren Kindern Perspektiven bieten können“, sagt Mir Ahmad.

 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2021: Selbst bestimmen!
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