Die Waffen nieder – und dann?

Karim Jaafar, Getty Images
Beginn einer neuen Ära? Der Verhandlungsführer der Taliban Abbas Stanikzai spricht im September in Katar bei den Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung.
Afghanistan
Trotz Friedensgesprächen zwischen afghanischen Regierungsvertretern und Taliban sitzt das Misstrauen auf beiden Seiten tief. Ein Bruch zeichnet sich auch zwischen aktiven Talibankämpfern und ihren politischen Vertretern im Exil ab. 

Es ist ein bewölkter Tag im Frühling 2020 in der nordafghanischen Provinz Baghlan. In einem Haus nahe der Hauptstadt Pul-e Khumri sitzt der Mudschahed Lemar, der nicht mit seinem vollen Namen genannt werden möchte, und redet nahezu begeistert über den Krieg in seiner Heimat. „Mit Gottes Hilfe werden wir gewinnen. Unsere Bewegung ist sehr erfolgreich und kämpft unerbittlich.“ Die Bewegung, von der der 23-Jährige spricht, sind die Taliban – und er ist einer von ihnen. In seiner Montur wirkt der junge Afghane auf den ersten Blick älter, als er eigentlich ist: Er trägt eine lange Mähne und einen Bart, dessen Flaum sein junges Alter allerdings kaum verbirgt. Hinzu kommt seine Kalaschnikow, die er lässig über die Schulter geworfen hat. Lemar betrachtet sich als stolzen Krieger, der für die gerechte Sache kämpft. „Unter uns Mudschahedin befinden sich viele reine Kämpfer. Sie dienen nur Gott, und sobald man sie sieht, ist man von ihrer Reinheit überzeugt. Das ist unser Weg, der wahre Weg“, sagt Lemar überzeugt.

Es scheint, als sei der junge Kämpfer mit der Propaganda der Taliban aufgewachsen, so sehr hat er sie verinnerlicht. Doch dem ist nicht so. Während Lemar für die Taliban kämpft, unterstützt seine Familie die offizielle Kabuler Regierung. Sein älterer Bruder, Aziz ur-Rahman, arbeitet für den Gouverneur von Baghlan. Nachdem Lemar vor einigen Jahren von zu Hause ausgerissen war und sich den Taliban angeschlossen hatte, hat Aziz ur-Rahman mehrmals versucht, seinen kleinen Bruder nach Hause zu bringen. Vergeblich. Damit ist Lemars Fall exemplarisch für viele afghanische Familien: Während der eine Sohn für die Armee kämpft, schließt sich der andere den Taliban an.

Baghlan gehört zu den unruhigsten Provinzen in Afghanistan. Hier gibt es immer wieder heftige Kämpfe zwischen Taliban und Regierungstruppen. Vor allem in der Region Cheshm-e Sher verlassen die Menschen regelmäßig ihre Häuser, um nicht von den Mörsern und Raketen der Aufständischen oder Soldaten getroffen zu werden. Beide Seiten nehmen kaum Rücksicht auf Zivilisten, berichtet der 26-jährige Mohammad Sultan, ein junger Bauingenieur aus Baghlan, im Frühjahr. „Auch ich musste schon einmal das Weite suchen, um nicht von einer Kugel getroffen zu werden. Den Soldaten der Armee ist es völlig egal, ob ich ein Zivilist oder ein Talib bin. Wäre ich noch länger auf der Straße geblieben, wäre ich jetzt wohl tot.“ Sultan hätte sich eigentlich um eine beschädigte Stromleitung kümmern müssen, doch dann gingen die Kämpfe los.

Sein Studium schloss Sultan vor rund drei Jahren in Kabul ab. Dort gab es zwar Selbstmordanschläge und Bombenexplosionen, doch aufgrund der Größe der Hauptstadt bekam er davon nur selten direkt etwas mit. In seiner Heimatprovinz Baghlan, in die er nach dem Studium zurückgekehrt ist, weil seine Familie dort lebt, herrscht dagegen der „klassische“ Krieg. Wie sehr sich alle daran gewöhnt haben, merkt man nicht zuletzt daran, dass Sultan weder aufgebracht noch nervös wirkt, als er die Kämpfe in Cheshm-e Sher beschreibt. Und das, obwohl in der Nähe, während er erzählt, Explosionen und Gewehrfeuer zu hören sind – heute ebenso wie im Frühjahr 2020.

Wie Lemar ist auch Mohammed Sultan mit dem Krieg aufgewachsen. Die Kämpfe waren immer da, auch in jenem Teil Baghlans, aus dem sie stammen: der „Fabrik“. Dabei handelt es sich um das Gebiet um eine Zuckerfabrik, die in den 1940er Jahren mit deutscher Hilfe errichtet wurde. Für den vernachlässigten Norden Afghanistans war das damals ein großer Schritt in Richtung Industrialisierung. Zahlreiche neue Arbeitsstellen entstanden, die viele aus den verschiedensten Regionen des Landes anlockten. Von der damaligen Hoffnung ist heute kaum noch etwas zu spüren. Zwar ist die Zuckerfabrik weiterhin intakt, aber sie zieht immer weniger Menschen nach Baghlan. Denn die Provinz gilt als Transitroute nach Masar-i-Scharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, in der auch die deutsche Bundeswehr stationiert ist. Die unruhige Lage in Baghlan und die Kämpfe in Cheshm-e Sher behindern regelmäßig den Verkehr.

Autor

Emran Feroz

ist freier Journalist und Autor des Buches „Der längste Krieg“ über den „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan.
An ein Ende des Krieges glaubt hier in Baghlan kaum jemand, auch wenn die USA und die Taliban im Februar ein Abkommen über den Abzug der US-Truppen unterzeichnet haben und die afghanische Regierung nun mit Vertretern der Taliban in Katar verhandelt. „Klar, jeder will Frieden“, meint Sayed Kareem, ein Einwohner Baghlans, im September 2020. „Aber es gibt einfach viel zu viele Kriegsprofiteure. Für die einfachen Menschen, die täglich sterben, interessiert sich niemand.“ Kareem kehrt gerade von einer Beerdigung zurück. Ein Freund, ein lokaler Kämpfer einer Anti-Taliban-Miliz, wurde getötet, wie es aussieht von Regierungssoldaten.

Denn trotz der Verhandlungen geht der Krieg weiter. Das Ziel der Taliban ist nun nicht mehr das US-Militär, sondern die afghanische Armee, die ebenso erbarmungslos gegen Taliban und gegen Zivilisten vorgeht und weiterhin zivile Ziele bombardiert, auch in Baghlan. Ende August wurde nahe der „Fabrik“ eine Religionsschule bombardiert. Sechs Zivilisten wurden getötet. Die Kabuler Regierung bezeichnete sie allesamt als Talibankämpfer. Allein im Jahr 2019 warf das US-Militär laut Pentagon mehr als 7400 Bomben über Afghanistan ab, wie die britische Zeitung „The Guardian“ berichtet. Zivile Opfer der Luftangriffe im ganzen Land, etwa in Balkh, Herat, Paktia oder Helmand, haben viele Menschen radikalisiert und in die Arme der Extremisten getrieben. 

Arztpraxis in der afghanischen Provinz Baghlan. Der Arzt Sayed Shah (Mitte) behandelt den Talibankämpfer Lemar regelmäßig.

„Sie töten Menschen, Jugendliche und Kinder, und nennen die dann Terroristen“, meint Lemars Altersgenosse und Mitstreiter Mansoor, der sich ebenfalls vor einigen Jahren den Taliban angeschlossen hat. Als Reaktion darauf radikalisiere sich die Bevölkerung immer mehr. „Viele Menschen in Kabul wissen einfach nicht, was in Baghlan und anderen Provinzen täglich passiert.“ Für Lemar belegen derlei Angriffe auf die Zivilbevölkerung, dass man weder mit den ausländischen Soldaten noch mit der afghanischen Regierung Frieden schließen könne. Zu den Friedensgesprächen in Katar kann oder will er allerdings nicht viel sagen. Er behauptet, dass seine Führer ihn und die anderen Kämpfer nicht „verraten“ werden, macht dabei allerdings einen etwas unsicheren Eindruck.

Die Talibanführer gelten in der öffentlichen Wahrnehmung als opferbreiter als die Warlords und Technokraten, die von den USA in Kabul unterstützt werden. So ist beispielsweise Tarek Ghani, der Sohn des Präsidenten Ashraf Ghani, in den USA aufgewachsen und lehrt in Washington, D. C. Wirtschaft. Der Sohn des gegenwärtigen Anführers der Taliban, Mawlawi Haibatullah Akhundzada, wurde dagegen im Krieg getötet. Auch viele andere Führungsfiguren der Taliban oder ihre Familienmitglieder wurden getötet, entführt oder gefoltert, etwa in Guantanamo, während afghanische Politiker gemäß dieser Wahrnehmung im von Hilfsgeldern subventionierten Luxus lebten, sich bereichern und ihre Kinder auf private Universitäten in westlichen Staaten schicken.

Mittlerweile ist allerdings ein Bruch innerhalb der Taliban selbst zu beobachten. Auf der einen Seite steht die politische Delegation in Katar, die seit einigen Jahren in Sicherheit und einem gewissen Wohlstand am Golf lebt. Auf der anderen Seite stehen die Kämpfer an der Front, darunter hochrangige Kommandanten, die seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten kämpfen, sowie Jungspunde wie Lemar und Mansoor, die den Krieg romantisieren und sich weiter radikalisieren. Sie verlieren mehr und mehr die Geduld mit ihren Diplomaten im Golfemirat. Sie sind der Meinung, dass man den Amerikanern und ihren „Marionetten in Kabul“ nicht trauen darf und dass sie – das „Islamische Emirat Afghanistan“ – ohnehin den Krieg gewinnen werden. Während Talibananschläge in den letzten Monaten in urbanen Gebieten wie Kabul stark zurückgegangenen sind, eskaliert die Lage in ländlichen Gebieten. Laut US-Militär fanden 2019 über 8200 Talibanangriffe statt – ähnlich wie bei den Luftangriffen der Amerikaner ist auch das ein Höchststand seit Beginn des Krieges. So eskaliert der Krieg just zu dem Zeitpunkt, an dem endlich Friedensgespräche geführt werden. Die meisten Opfer sind Zivilisten. Im Jahr 2019 wurde nach UN-Angaben ein Drittel dieser Zivilisten von Nato-Luftangriffen, Regierungstruppen und CIA-Milizionären verletzt oder getötet, knapp die Hälfte von den Taliban. 

Lemar ist allerdings der Meinung, dass seine Bewegung gar keine Zivilisten töte. „Zivilisten? Quatsch. Sie sind schuldig. Sie standen auf der Seite der Regierung. Sie waren bewaffnet. Ich glaube weder irgendwelchen westlichen Berichten noch der verbrecherischen Regierung in Kabul. Unsere Bewegung ist rein und fügt unschuldigen Menschen gewiss keinen Schaden zu.“

Lemars Geschichte ist traurig, und sie ist kein Einzelfall. Der Krieg hat viele afghanische Familien zerrissen. Während ein Sohn sich den Taliban anschließt, geht der andere zur Armee. Ähnliches spielte sich bereits in den 1980er Jahren ab, als die Sowjets ins Land einmarschierten. Damals bekämpften die Mudschahedin-Gruppierungen, die von den USA, Saudi-Arabien, Pakistan und anderen Staaten unterstützt wurden, die kommunistische Diktatur in Kabul.

Viele Menschen im Land fragen sich, was junge Männer wie Lemar tun werden, falls es tatsächlich zu einem Waffenstillstand kommen sollte und die US-Truppen das Land verlassen. Werden sie auf ihre Führer hören, ihre Waffen niederlegen und zu ihren Familien zurückkehren? Oder werden sie unter einer neuen Flagge weiterkämpfen? Ein Mann, der diesen Kämpfern eine Zukunft geben will, ist Ex-Präsident Hamid Karsai. „Es liegt an uns, diese jungen Männer wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wir müssen ihnen Möglichkeiten anbieten, versicherte er gegenüber dem Autor in mehreren Interviews, zuletzt Anfang Oktober 2020. Wie dies geschehen kann und soll, war allerdings bislang bei den Friedensverhandlungen kein Thema. 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2020: Erbe des Kolonialismus
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