In Afrika haben einheimische Religionen das Christentum und den Islam beeinflusst
Von Gerrie ter Haar und Stephen Ellis
Das Christentum und der Islam sind die größten Religionen in Afrika. Beide haben dort besondere Züge angenommen, die an einheimische Religionen anknüpfen – etwa an die Wirksamkeit spiritueller Kräfte, die Rolle von Heilern und die Offenheit für neue göttliche Offenbarungen. Dies schwächt die Bedeutung von Dogmen und Kirchenhierarchien und begünstigt Toleranz
Europäer, die Afrika südlich der Sahara bereisten, schrieben bis vor etwa einem Jahrhundert immer wieder, die Afrikaner besäßen überhaupt keine Religion. Doch gleichzeitig berichteten sie, die Menschen dort hätten klare Vorstellungen von der Existenz unsichtbarer Kräfte oder Geistwesen, mit denen sie über Rituale in Verbindung stünden. Um das zu bezeichnen, was wir heute Religionsausübung nennen würden, benutzten des Englischen mächtige Afrikaner in Liberia, Sierra Leone und der frühen britischen Kolonie in Lagos häufig den Ausdruck „auf Landesweise machen“ – etwas den Sitten der Region entsprechend tun. Diese Religionen der Gemeinschaften beruhten nicht auf geschriebenen Texten, sie besaßen oft keine sakralen Gebäude und für gewöhnlich keine Priesterschaft. Aus diesem Grund waren afrikanische rituelle Praktiken in den Augen europäischer Besucher keine Religion.
„Religion“ ist ein Wort, das je nach Zeit und Ort sehr unterschiedliche Bedeutung hat. Wenn heutige Gelehrte den Begriff auf die Geschichte Afrikas anwenden, bezeichnet Religion eine Palette von Vorstellungen und Praktiken, die in einer bestimmten Gemeinschaft üblich waren und mit den Beziehungen zur unsichtbaren Welt zu tun hatten. Diese wurde als die letzte Quelle des Lebens betrachtet.
Den meisten afrikanischen Sprachen fehlte bis zum 19. Jahrhundert nicht nur eine genaue Übersetzung für den europäischen Begriff Religion. Sie besaßen auch keine genaue Entsprechung für „Politik“. Was wir heute Religion, Politik und Regieren nennen, gehörte in schriftlosen Gesellschaften sämtlich zur Praxis der Machtausübung, bei der sichtbare und unsichtbare Kräfte schwer zu unterscheiden waren. Im Mittelpunkt standen dabei Beziehungen – zu Menschen, zur natürlichen Umwelt sowie zu den Vorfahren und anderen Geistwesen in der Welt des Unsichtbaren.
Nur wenige Gemeinschaften südlich der Sahara übernahmen vor dem 19. Jahrhundert das Christentum. Die wichtigsten lebten in Äthiopien, einem der ältesten Verbreitungsräume des Christentums. Ebenso drang auch der Islam nur in relativ wenige Gegenden vor, insbesondere entlang der Handelsstraßen durch die Sahara, das Niltal und über den Indischen Ozean. Erst nachdem im Anschluss an die Berliner Konferenz von 1884-1885 der größte Teil Afrikas unter europäische Kolonialherrschaft geraten war, wuchsen sowohl der Islam als auch das Christentum in Afrika deutlich. Heute leben Hunderte von Millionen Christen und Muslimen südlich der Sahara. Es ist kein Zufall, dass das Wachstum dieser Weltreligionen mit der Verbreitung von Lese- und Schreibfertigkeiten und bürokratischen Regierungsformen zusammenfiel.
Der Islam und das Christentum unterscheiden sich in wichtigen Punkten von den Gemeinschaftsreligionen, die in Afrika immer existiert haben. Vor allem liegen ihnen geschriebene Texte zugrunde, die im Prinzip als unveränderlich und jederzeit und überall gültig betrachtet werden. Für Muslime ist der Koran direkt vom Himmel gekommen. Auch der Bibel liegt nach dem Glauben der Christen eine göttliche Offenbarung zugrunde, und ihre kanonische Form wurde in den ersten Jahrhunderten nach Christus festgelegt. Der Islam und das Christentum sind zudem beide monotheistische Religionen, die die Existenz anderer Götter grundsätzlich nicht anerkennen. Auch behaupten beide, seit vielen Jahrhunderten gebe es keine direkte Offenbarung göttlicher Botschaften mehr. In der Tradition afrikanischer Gemeinschaftsreligionen bleibt die Offenbarung dagegen immer offen und dauert an. Dieses Element der sogenannten offenen Offenbarung in afrikanischen traditionellen Religionen und Praktiken untergräbt tendenziell die Autorität religiöser Hierarchien.
Viele Afrikaner sind heute Christen oder Muslime, aber es gibt auch viele, die sich weiter als Anhänger ihrer traditionellen Religion verstehen. Doch der Charakter afrikanischer Gemeinschaftsreligionen hat sich im Lauf der Zeit merklich verändert. Nach der Kolonisierung Afrikas haben Generationen von Ethnologen und Kolonialbeamten Strukturen in den Mustern der Religionsausübung festgestellt, wo Afrikaner selbst möglicherweise gar keine Vorstellung von Einheitlichkeit oder Regelmäßigkeit hatten. Bücher und Artikel über „ethnische“ Religionen etwa der Ashanti, der Yoruba oder der Zulu machten ein geschlossenes Ganzes aus etwas, das vorher niemals besonders systematisch gewesen sein mag. Die Vorstellung, dass Religionen Glaubenssysteme sind, wurde und wird noch heute von außen auf Afrika übertragen.
Tatsächlich haben sowohl das Christentum als auch der Islam Vorstellungen und Praktiken aufgenommen, die schon vorher in Afrika existiert hatten. Im Christentum zeigt sich das am deutlichsten in den unabhängigen Kirchen, die südlich der Sahara ab dem späten 19. Jahrhundert entstanden sind: Afrikaner riefen unabhängig von den Missionskirchen ihre eigenen christlichen Gemeinden ins Leben. Unabhängige Kirchen waren zunächst für arme Bevölkerungsgruppen attraktiv. Seit einigen Jahren haben allerdings neue afrikanisch initiierte Kirchen, die besonders in der Mittelschicht Anklang finden, bemerkenswert zugenommen.
Im Islam sind südlich der Sahara die Sufi-Bruderschaften von großer Bedeutung. Sie beruhen meist auf der Verehrung eines Heiligen und werden immer wieder von muslimischen Reformern kritisiert, die häufig in Ägypten, Saudi-Arabien oder in jüngster Zeit auch in Pakistan studiert haben. Wichtig für die muslimischen Gemeinschaften in Westafrika sind auch die sogenannten marabouts. Das sind heilige Männer, denen man besondere religiöse Gelehrsamkeit und oft auch die Macht zuschreibt, Wunder zu wirken.
Vielleicht am auffälligsten am besonderen Charakter des Islam und des Christentums in Afrika ist die Rolle des Geistes. Zur Zeit ist das besonders deutlich in den charismatischen Kirchen, die auf dem ganzen Kontinent aus dem Boden geschossen sind und auch unter afrikanischen Christen in Europa eine Blüte erleben. Darin drückt sich eine Vorstellung von spiritueller Macht aus, die tief in afrikanischen religiösen Traditionen verwurzelt ist. Verbunden mit der Macht des Geistes ist der Gedanke der Heilung. In Afrika fasst man unter menschlichem Wohlergehen oder „Ganz-Sein“ im Allgemeinen sowohl die körperliche wie seelische, sowohl die individuelle wie die soziale Dimension. Wahrhaft gesund ist ein Mensch, der in jedem Lebensbereich Erfolg hat und in ein Netz guter sozialer Beziehungen eingebunden ist. Nicht nur körperliche Schmerzen, sondern auch böse Träume, Pech, sogar Arbeitslosigkeit werden für gewöhnlich als Probleme betrachtet, die ein fähiger Heiler mit Hilfe spiritueller Kräfte lösen kann. Die Bindung an einen muslimischen marabout oder einen christlichen Propheten hängt oft mit seiner vermeintlichen Fähigkeit zu heilen zusammen. Viele unabhängige Kirchen in Afrika wurden von solchen heilenden Propheten ins Leben gerufen.
Die Tradition einer offenen Kommunikation mit der unsichtbaren Welt verleiht der Religion in Afrika einen besonderen Charakter – nicht nur den religiösen Ideen, sondern auch den Institutionen. Menschen, die auf der Suche nach Heilung sind, wechseln problemlos von einer religiösen Autorität zu einer anderen. Wer aus irgendeinem Grund mit einer Kirche unzufrieden ist, geht einfach zu einer anderen. Viele Menschen halten sich an mehr als nur eine Tradition. In vielen Teilen Afrikas sind Familien religiös gemischt – es kommt häufig vor, dass Mann und Frau unterschiedlichen religiösen Traditionen folgen. Im Großen und Ganzen erschweren es die Besonderheiten religiöser Praxis in Afrika, religiöse Institutionen mit den Mitteln der etablierten Kirchen zu leiten und zu verwalten.
Auch wenn die traditionell flexiblen afrikanischen Glaubensformen auf die Schriftreligionen mit ihrer dogmatischen Natur stoßen, bleiben die Afrikaner doch im Allgemeinen in Religionsfragen tolerant. Wo der Glaube nicht nur festgeschrieben wurde, sondern intolerant geworden ist, beispielsweise im Sudan und in Nigeria, liegt das gewöhnlich daran, dass die Religion ein Instrument des politischen Kampfes ist. Im Sudan, wo das Niltal – das Zentrum des Staates – auch ein Zentrum der Ausbreitung des Islam war, betrachten die Südsudanesen die Zugehörigkeit zum Christentum inzwischen als einen Ausdruck der Opposition gegen die Machtelite in Khartum.
Vielerorts, wo Staaten und Regierungen unfähig sind, das Recht durchzusetzen oder für ein Mindestmaß an Sicherheit zu sorgen, bekommen religiöse Gemeinschaften eine völlig andere politische und soziale Bedeutung als irgendwo in Europa. Im öffentlichen Leben Afrikas gewinnt die Religion an Gewicht. Und darin kann man ein Wiederaufleben alter Muster erkennen, nach denen Religion ein impliziter, untrennbarer Teil des Gemeinschaftslebens ist. Gleichzeitig ist die Dynamik der Weltreligionen Christentum und Islam vielleicht das wichtigste Band, das Gemeinschaften in Afrika mit anderen Kontinenten verbindet.
Die außergewöhnlich große soziale Bedeutung, die in Afrika südlich der Sahara der Religion zukommt, macht diese auch zu einer bedeutenden politischen Ressource – nicht nur in Krisenstaaten wie dem Sudan, sondern allgemein. Auf dem ganzen Kontinent finden Politiker immer wieder Wege, sich Religionsgemeinschaften und religiöse Netzwerke für den Ausbau ihrer Macht zunutze zu machen. Zudem befasst sich die internationale Politik damit, dass es afrikanischen Staaten nicht gelingt, die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Gesellschaften sicherzustellen, und beachtet dabei zunehmend, welche Möglichkeiten die Religion für wirtschaftliche Entwicklung eröffnet. Die britische staatliche Entwicklungsagentur (Department for International Development, DFID), weitere europäische Geber und auch nichtstaatliche Organisationen untersuchen, welche Rolle Religion als Ressource für die Entwicklung spielen könnte. Dies wird seit einigen Jahren auch von den größten internationalen Finanzinstitutionen diskutiert, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF).
Das neue Interesse an Religion kann als Teil eines Paradigmenwechsels begriffen werden: weg von einem engen ökonomischen Verständnis von Entwicklung und hin zum Begriff der menschlichen Entwicklung. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) geht es bei menschlicher Entwicklung darum, „eine Umwelt zu schaffen, in der Menschen ihr volles Potenzial entwickeln und ein produktives, kreatives Leben führen können, das ihren Bedürfnissen und Interessen entspricht“. Diese Vision von Entwicklung geht über rein materielle und technokratische Aspekte hinaus. Darin ist auch Raum für die spirituellen Ressourcen in Afrikas religiösen Gemeinschaften. Eine zentrale Vorstellung in den religiösen Traditionen Afrikas lautet, dass spirituelles Wachstum eine Bedingung für andere Formen des Wohlergehens ist, auch für Gesundheit und finanziellen Erfolg.
Die vielleicht größte Gefahr bei diesem neuen Interesse der Entwicklungshilfe an Religion ist die Versuchung, religiöse Institutionen oder Netzwerke einfach zusätzlich auf die Liste der Wege zu setzen, über die Entwicklungsvorhaben umgesetzt werden. Geberorganisationen sind häufig frustriert von den Unzulänglichkeiten afrikanischer Staaten, die ihrer Einschätzung nach instabil oder schwach sind. Dann neigen sie dazu, nach anderen sozialen Akteuren zu suchen, die deren Rolle übernehmen könnten; so sind sie zum Beispiel in den vergangenen Jahren für die Zivilgesellschaft eingetreten. Ein solcher Ansatz wird jedoch kaum Entwicklung fördern. Vielmehr müssen Entwicklungsorganisationen die Weltanschauung der Menschen verstehen, denen sie zu helfen versuchen. Und diese Weltanschauung ist in vielen Teilen der Welt religiöser Art. In Afrika lässt sich Religion am besten als Glaube an eine unsichtbare Welt begreifen, die von spirituellen Kräften bewohnt wird. Diesen wird Macht über das materielle Leben zugeschrieben. Wenn es Entwicklungspolitikern und Entwicklungshelfern ernst ist mit der Zusammenarbeit mit religiösen Gemeinschaften, dann werden sie deren Weltbilder ernst nehmen müssen – auch wenn sie ihnen fremd oder sogar unangenehm sind.
Gerrie ter Haar ist Professorin für Religion und Entwicklung am Institut für Soziale Studien in Den Haag.
Stephen Ellis ist Geschichtswissenschaftler am Zentrum für afrikanische Studien in Leiden.
Der Imam und der Pastor: Gemeinsam gegen Gewalt
In Nigeria sind Gewaltausbrüche zwischen christlichen und muslimischen Gruppen häufiger als in den meisten anderen afrikanischen Ländern. Ein bewegendes Beispiel dafür, welche zwiespältige Rolle Religionen und ihre Führer dabei spielen können, schildert der Dokumentarfilm „Der Imam und der Pastor“ des britischen Regisseurs Alan Channer. Im Mittelpunkt stehen Pastor James Wuye und Imam Muhammad Ashafa, die 2001 in der Stadt Kaduna im Norden Nigerias ein interreligiöses Zentrum für Konfliktschlichtung gegründet haben. Beide hatten seit Anfang der 1990er Jahre mit den Milizen ihrer jeweiligen Gruppen gegeneinander gekämpft und Verluste erlitten.
Dann ging der Imam auf den Pastor zu. Beide begannen, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen. Dies, so machen ihre Erzählungen deutlich, war mit einer Überprüfung ihres Glaubens verbunden. So leitet der Imam vor der Kamera das Gebot „Vergib Deinen Feinden“ aus dem Koran ab. Die theologischen Argumente für den Frieden richten sich nicht zuletzt an die eigenen Gemeinden, in denen der Sinneswandel der beiden Geistlichen Kontroversen hervorgerufen hat. In Kaduna bringen Imam Ashafa und Pastor James 2002 eine Friedenserklärung zahlreicher Religionsführer und der örtlichen Regierung zustande. Seitdem reisen beide als gemeinsame Vermittler an Orte, an denen Gewalt droht oder ausgebrochen ist. Der Film begleitet sie dabei. Er endet mit einem großen Versöhnungsfest in der Kleinstadt Yelwa Shandam, wo 2004 etwa 630 Menschen bei Kämpfen zwischen Christen und Muslimen umgekommen sind.
Der Film vermittelt nebenbei ein vielschichtiges Bild von der Rolle der Religionen in Nigeria. Imam Ashafa stammt aus einer Familie von Islam-Gelehrten; er pflegt seine arabische Bildung und seine Aversion gegen das britische koloniale Erbe. Dagegen ist Pastor James durch ein Bekehrungserlebnis – zuvor war er nach eigenem Bekenntnis ein Trinker – zu einer Pfingstkirche gekommen, die eine charismatische Frömmigkeit praktiziert. Aufschlussreich ist auch die Vermischung von religiöser Handlung, Volksfest und – auf Seiten der Behörden – politischer Demonstration in der Versöhnungszeremonie. Der Film stellt sie dar, ohne in Folklorismus zu verfallen. Die berührende und sorgfältige Dokumentation ist sehr zu empfehlen. (bl)
Der Imam und der Pastor. Dokumentarfilm von Alan Channer, Nigeria/Großbritannien 2006, OmU, DVD, 40 Minuten, Farbe, Herausgeber und Verkauf: EZEF (www.ezef.de); Verleih: www.evangelische-medienzentralen.de
welt-sichten 8-2008