Wie viele Menschen in Lagos, der Hauptstadt von Nigeria, leben, weiß niemand so genau. Als ich vor einem Jahrzehnt dort war, gaben die Vereinten Nationen die Einwohnerzahl vorsichtig mit 11,5 Millionen an, andere Schätzungen reichten bis zu 18 Millionen. Einigkeit herrschte allerdings, dass Lagos ein rapides Bevölkerungswachstum verzeichnet. Schon damals hatte die Stadt vierzig Mal mehr Einwohner als 1960, als Nigeria unabhängig wurde. Und es werden immer mehr: Laut Prognosen der Vereinten Nationen wird Lagos bis 2035 die Heimat von 24,5 Millionen Menschen sein.
Dies entspricht der Entwicklung auf dem gesamten Kontinent. Heute leben in Afrika 1,4 Milliarden Menschen, für das Ende des Jahrhunderts prognostizieren die Vereinten Nationen 3,9 Milliarden, 40 Prozent der Weltbevölkerung. Und dieses erstaunliche Bevölkerungswachstum wird sich vor allem in den Städten abspielen.
Im Brennpunkt der urbanen Transformation steht der Streifen an der Westküste Afrikas, der sich von Abidjan, dem ökonomischen Zentrum der Côte d‘Ivoire, etwa tausend Kilometer Richtung Osten quer durch Ghana, Togo und Benin bis nach Lagos in Nigeria erstreckt. Nirgendwo sonst auf der Welt schreitet die Urbanisierung derart schnell voran, sagen die Experten. Hier entsteht eine „Megalopolis“, eine Anhäufung eng miteinander verflochtener städtischer Zentren.
In wenig mehr als einem Jahrzehnt werden die größten Städte dieser Megalopolis insgesamt 40 Millionen Einwohner zählen. Abidjan wird mit 8,3 Millionen Einwohnern beinahe so groß sein wie heute New York. Die Entwicklung der kleineren Städte der Region wird nicht weniger dramatisch verlaufen. Sie werden entweder ebenfalls zu urbanen Zentren wachsen oder wie Oyo in Nigeria, Takoradi in Ghana und Bingerville in der Côte d‘Ivoire allmählich von größeren Städten geschluckt werden. Unterdessen entstehen in Regionen, die noch vor einer Generation nahezu menschenleer waren, immer neue Städte. Bezieht man diese in die Betrachtungen ein, dann könnten bis 2035 in dieser Küstenzone 51 Millionen Menschen leben.
Die Zukunft der Urbanisierung liegt auf dem afrikanischen Kontinent
Und bis 2100 wird der Lagos-Abidjan-Gürtel mit etwa einer halben Milliarde Menschen das größte urbane Siedlungsgebiet auf der Erde sein. „Ich habe in China und Indien gearbeitet, und bisher dachte man meist an diese Länder, wenn man von der Zukunft der Stadt sprach“, sagt Daniel Hoornweg, Umweltingenieur an der Ontario Tech University. „Dabei liegt die Zukunft der Urbanisierung unbestreitbar auf dem afrikanischen Kontinent. Und die größten Veränderungen werden sich in diesem Streifen entlang der westafrikanischen Küste ergeben.“ Wenn sich die Region effizient entwickelt, dann werde sie „mehr als die Summe ihrer Teile“ werden, sagt Hoornweg. „Läuft es nicht so gut, geht ungeheuer viel ökonomisches Potenzial verloren, im schlimmsten Fall kommt es zu einer Katastrophe.“
Diesen Küstenabschnitt habe ich Ende der 1970er Jahre während einer langen Autofahrt von der Côte d‘Ivoire nach Nigeria kennengelernt, wo meine Familie damals lebte. Mein Vater leitete zu dieser Zeit ein großes Weiterbildungsprogramm der Weltgesundheitsorganisation und sollte an einer Konferenz in Lagos teilnehmen. Er lud mich und meine Brüder ein, ihn auf dieser Reise zu begleiten. Ich hatte gerade ein Studium in den USA begonnen, doch es waren Sommerferien, und so stieg ich begeistert in den klapprigen alten Land Rover.
Unsere Route war auf einer halb zerfledderten Michelin-Karte eingezeichnet. Bald entpuppten sich viele der roten Linien, die nationale oder internationalen Fernstraßen darstellen sollten, als gewöhnliche Landstraßen mit nur einer Fahrbahn pro Richtung. Nicht selten war der Asphaltbelag bis zur Unkenntlichkeit von schweren Lastwagen zerfahren oder vom Regen weggewaschen. Die kleineren Überlandverbindungen und Nebenstraßen, auf der Karte in blassem Gelb und Weiß verzeichnet, waren lediglich unbefestigte Pisten, auf denen wir heftig durchgeschüttelt wurden und viel Staub schluckten. Und über weite Strecken war Westafrika so menschenleer, dass wir Treibstoff in Kanistern mitnehmen mussten.
In Takoradi hat die Einwohnerzahl sich binnen einer Generation verfünffacht
Mehr als vierzig Jahre später, im Jahr 2022, habe ich diesen Küstenstreifen wiedergesehen. Dieses Mal fuhr ich nicht entlang der Küste, dafür unternahm ich eine Reihe kleinerer Autoausflüge in Ghana, Togo und Benin. Wohin ich auch kam, überall waren die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Wandels unverkennbar. In Ghana habe ich Takoradi besucht, das ich von früher kannte, und die mit ihm verschmolzene Eisenbahnstadt Sekondi. Im Jahr 1980 hatten in beiden Städten zusammen 197.000 Menschen gelebt. Seitdem hat ihre Bevölkerungszahl die Millionenschwelle überschritten, was in den USA bisher nur 14 Städte geschafft haben – ein Anstieg um mehr als das Fünffache in etwas über einer Generation.
An dem Julimorgen, als ich Takoradi wiedersah, beging man gerade das islamische Opferfest, dort Tabaski genannt, und die engen Gassen der Stadt waren voller junger Menschen aus der muslimischen Minderheit, alle in fließenden, farbenfrohen Gewändern. Bei der Gründung vor mehr als einem Jahrhundert war die Stadt Ghanas einziger Hafen gewesen. Die in verblichenen Pastell- und Beigetönen getünchten Häuser der Innenstadt mit ihren Veranden wirkten wie das Filmset eines Kolonialdramas. Nur ein Stückchen weiter wich diese historische Szenerie einer riesigen Baustelle, aus der sich eine Hochstraße über staubige Sträßchen erhob. Nach ihrer Fertigstellung soll man auf ihr das überlastete Zentrum umfahren können, so dass man leichter die Randbezirke erreicht, in denen heute die Mehrzahl der Einwohner lebt.
Heidelbeeren und Hundefutter in Dosen
Autor
Howard W. French
ist Journalist und Professor für Journalismus an der Columbia University. Er war Auslandskorrespondent der „New York Times“ und schreibt für mehrere Zeitungen und Zeitschriften. Sein jüngstes Buch ist „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ (Klett-Cotta 2023).Am Westrand von Takoradi machte ich bei einem Einkaufszentrum Halt, wo ich in den Regalen eines gutbesuchten Supermarkts südafrikanische Weine, Schweizer Schokolade und dieselben frischen, in Zellophan verpackten Heidelbeeren fand, die ich jeden Tag in New York esse. Es gab auch teures Hundefutter in Dosen, ein untrügliches Zeichen für ein gehobenes Einkommensniveau, und ich sah portugiesische und chinesische Restaurants, einen Schönheitssalon, einen Mobilfunkladen und ein florierendes Atelier für Brautmoden.
Woher das Geld kommt, das ein solches Einkaufszentrum trägt, erschließt sich einem nicht unmittelbar. Zum Teil wird es sicherlich in der Offshore-Ölindustrie erwirtschaftet, einiges stammt wohl aus dem erst vor einiger Zeit erweiterten Regionalhafen, anderes aus einer Kombination von traditionellem Kakaoanbau und neuen Jobs im Technologiebereich. Doch zeigt es auch, worin sich diese Megaregion von anderen, früheren unterscheidet. In Lagos, Accra, Abidjan und auch in kleineren Städten wie Takoradi liegen globalisierte Enklaven mit engen Verbindungen zur wohlhabenden Welt inmitten großer, ärmlicher Gebiete, die halb hoffnungsvoll aufstrebend, halb in Armut erstarrt sind.
Das Ballungszentrum Kasoa wuchert in alle Richtungen
Einmal bin ich von Ghanas Hauptstadt Accra in das nur etwa 30 Kilometer entfernte Kasoa gefahren, das zu den am schnellsten wachsenden Ballungszentren des Kontinents zählt. Der Blick über die Stadt von der Küstenhochstraße bietet ein gutes Beispiel dafür, dass sich afrikanische Städte eher in die Fläche ausdehnen, als in die Höhe zu streben. Hochhäuser sind rar, selbst mehrstöckige Häuser selten. Von oben gesehen wirkt Kasoa wie aus dem Boden gestampft und unfertig. Die junge Stadt mit den chronisch verstopften Straßen wuchert in alle Richtungen um den Knotenpunkt der Fernverbindungen. Schuld daran ist nach Ansicht zahlreicher Experten der Hauptfehler der afrikanischen Urbanisierung: Sie erfolgt weitgehend ohne jede Planung.
Die Straßen von Kasoa sind voller Verkaufsstände, in denen alles Mögliche zu haben ist. In den staubigen Nebenstraßen sieht man überall junge Leute, die den Passanten und Autofahrern gekühlte Getränke, Mobilfunkguthaben und billiges Plastikspielzeug anbieten, und an jeder Straßenecke werden unter Sonnenschirmen laut die Preise für Süßigkeiten, Fladenbrot oder Kochbananenchips ausgerufen.
Die meisten Einwohner in Städten wie Kasoa sind vor noch nicht allzu langer Zeit vom Land gekommen und leben nun in ärmlichen Behausungen aus Betonziegeln. Der 55-jährige Julius Ackatiah hat bereits etliche Jahre in Italien gelebt, wo sich für ihn der Traum vieler Afrikaner erfüllte, die Staatsbürgerschaft eines reichen europäischen Landes zu erwerben. Vor kurzem ist er zurückgekehrt und hat sich selbstständig gemacht. Ich traf ihn vor seinem Lädchen in einer Seitenstraße, wo er gebrauchte Haushaltswaren verkauft, die er sich aus Italien schicken lässt.
Warum ist er gerade nach Kasoa gegangen, frage ich ihn. Accra sei inzwischen zu dicht bebaut und zu teuer, antwortet Ackatiah, aber Kasoa habe Potenzial. „Viele fangen hier neu an und wollen sich einrichten. Das ist gut für mein Geschäft.“ Ackatiah sitzt auf der Treppe seines Ladens, umgeben von seinen Gebrauchtwaren: Plastikstühle, Sofas und Tische, Computerbildschirme und Haushaltsgeräte aller Art, von Kühlschränken und Mikrowellen bis zu Bügeleisen.
Die schlechte Verkehrsinfrastruktur hemmt die Entwicklung
Eines der größten Probleme für Afrikas wachsende Megaregionen ist die schlechte Verkehrsinfrastruktur. In Abidjan und Lagos gibt es Straßenbahnen, doch das Netz ist klein und der Ausbau stockt. Die schlechten Straßen hemmen die weitere Entwicklung. Abgesehen von der vierspurigen Autobahn zwischen Accra und Kasoa ist der gesamte etwa tausend Kilometer lange Küstenabschnitt nur durch eine einfache Straße mit einer Fahrspur pro Richtung verbunden, die sich durch Kleinstädte und Dörfer windet. Die Fahrer werden nicht nur von waghalsigen Fußgängern, sondern auch von herumlaufenden Tieren ausgebremst.
Doch es gibt Anlass zum Optimismus. Im Mai 2022 verkündete die Afrikanische Entwicklungsbank, es stünden 15,6 Milliarden US-Dollar für den Bau einer Autobahn entlang der Küste von Lagos nach Abidjan bereit. „Das ist ähnlich bedeutend wie die Straßenverbindung zwischen Baltimore und New York“, sagt Lydie Ehouman, Verkehrsökonomin der Bank. Im Jahr 2026 soll die sechsspurige Mautstraße fertig sein. Die Ökonomen der Afrikanischen Entwicklungsbank gehen davon aus, dass durch die Westafrikanische Fernstraße, wie die neue Verbindung heißen soll, der grenzüberschreitende Handel der beteiligten Länder um 36 Prozent wachsen wird.
„Ein zuverlässiges und schnelles Transportsystem wird vieles verändern“, sagt Daniel Hoornweg. „Grundstücke entlang der Verkehrsachse werden erheblich im Wert steigen, folglich wird man höher bauen, auch Wolkenkratzer, nicht nur immer weiter in die Fläche hinein. Die Städte werden außerdem wesentlich effizienter und umweltfreundlicher werden, und das macht ihre weitere Entwicklung nachhaltiger.“
Luxuriöse Wohntürme für die Wohlhabenden
Von dieser Vision ist derzeit vor Ort noch nicht viel zu sehen. Zwar werden in Lagos tatsächlich nach und nach eine Reihe moderner Hochhäuser errichtet. Und im Stadtzentrum von Accra ist ein beeindruckendes neues Immobilienprojekt am Ufer geplant: luxuriöse Wohntürme, Bürogebäude, schicke Einkaufszentren und Nobelhotels. Aber solche Planungen sind auf die Bedürfnisse jener zugeschnitten, die bereits zu Wohlstand gekommen sind, nicht auf die Millionen Menschen der Region, die bald dringend Wohnraum benötigen. Der Kontrast zu China, wo jede Großstadt von riesigen, vielgeschossigen Wohnsiedlungen umgeben ist, könnte größer nicht sein. Bauvorhaben wie die in Accra und Lagos wecken Zweifel, ob die Regierungen der Region genügend Weitsicht für die Bewältigung des tiefgreifenden demografischen und gesellschaftlichen Wandels haben.
„Westafrika wäre gut beraten, sich ein Beispiel an Asien zu nehmen“, sagte Alain Bertaud, Forscher am Marron Institute der New York University. Als ehemaliger Mitarbeiter der Weltbank und Spezialist für Urbanisierung hat Bertaud China bei der Entwicklung einer der erfolgreichsten Megaregionen der Welt beraten, dem Delta des Perlflusses. „Bevölkerungsdichte allein schafft noch keinen Wohlstand“, meint Bertaud. „Man braucht auch erheblich mehr Verkehrsinfrastruktur, und dazu gehören neue Schienentrassen und neue Straßen, die die Küstenautobahn mit dem Hinterland und den kleineren Städten verbinden, wo der Baugrund billiger ist.“ Dies alles erfordere länderübergreifende Bauprojekte, was nirgends auf der Welt einfach zu realisieren sei, fügt er hinzu. „In Indien haben wir gesehen, wie schwierig selbst der Bau einer über mehrere Bundesstaaten hinwegreichenden Autobahn sein kann. Afrika braucht eine deutlich bessere Koordinierung.“
Bright Simons, ein bekannter politischer Kommentator und Unternehmer aus Ghana, ist skeptisch. Für ihn ist die sich über fünf Länder erstreckende Megaregion „eine der am schlechtesten verwalteten Regionen des Planeten“. Die Regierungen verhielten sich „unglaublich unstrategisch“, sagt er. „Ich wundere mich immer wieder, mit welchem Einsatz die Führungsschicht Handelsabkommen mit Mexiko und anderen weit entfernten Ländern verfolgt und darüber ihre unmittelbaren Nachbarn vergisst.“
Die nationalen Eliten in der Megaregion unterhalten kaum Beziehungen untereinander
Zu den möglicherweise weitreichendsten Folgen der Kolonialherrschaft gehört die Abschottung der nationalen Eliten. Sie ist ein Erbe der Kolonialgeschichte und hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass praktisch an jeder Landesgrenze die Amtssprache wechselt, mal ist sie Französisch, dann wieder Englisch. Cotonou, das französischsprachige Wirtschaftszentrum von Benin, ist kaum 50 Kilometer von der Grenze mit dem englischsprachigen Nigeria und gute 100 Kilometer von dessen größter Stadt Lagos entfernt, doch niemand scheint sich dort um den riesigen Nachbarn zu kümmern. Die Stadt mit 700.000 Einwohnern (in der bis zum Jahr 2100 vermutlich fünf Millionen Menschen leben werden) gruppiert sich um ein kleines, aufgeräumt wirkendes Verwaltungszentrum, wo auch der Präsidentenpalast mit seinen großen Glasfronten steht. Er wirkt etwas überdimensioniert für Benin, den zweitkleinsten Staat im Küstenkorridor. Mit seinen ansonsten niedrigen Gebäuden und den vielen Mopeds hat Cotonou eher den Charakter einer Kleinstadt. Doch ob es Benin nun ignoriert oder nicht, die rasante Ausdehnung von Lagos wird sich eines Tages auch hier bemerkbar machen.
Als ich einen alten Bekannten, einen erfolgreichen Geschäftsmann aus Benin, frage, ob die Menschen in seinem Land und die politische Führung enge Beziehungen zu Nigeria unterhalten, antwortet er mit einem klaren Nein. „Die Eliten hier hängen einem französischen Chauvinismus an und halten sich für das Quartier latin der Region.“ Das ist ein Überbleibsel aus jener Zeit, als Frankreich Benin zum regionalen Ausbildungszentrum seiner Kolonien machte. „Vorausschauendes Denken ist nicht gerade die Stärke unserer Führungsschicht. Mit Nigeria als unmittelbarem Nachbarn hätten wir schon längst Englisch als verpflichtende Fremdsprache in den Schulen einführen sollen, doch so etwas kommt hier niemand in den Sinn.“
Diese Art von Pessimismus, gepaart mit gehöriger Skepsis gegenüber der Regierung auf nationaler Ebene, ist typisch für Westafrika. „Was wir brauchen, sind funktionierende Staatswesen, in Ghana, Benin und im Togo, und auch die Regierung in Nigeria sollte einigermaßen ihre Aufgaben erfüllen“, sagt Emmanuel Gyimah-Boadi, der 70-jährige Gründer und ehemalige CEO der Denkfabrik Ghana Center for Democratic Development. „Alle müssen an einem Strang ziehen, damit die fortschreitende Urbanisierung in eine lebenswerte Zukunft mündet.“
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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