Verzerrtes Bild

Von Blaise Bonvin

Korruption wird oft als stärker wahrgenommen, als sie tatsächlich ist. Dennoch werden auf Wahrnehmung beruhende Daten benutzt, um Aussagen über Bestechung und Vetternwirtschaft in einem Land zu treffen. Das kann vor allem für ärmere Staaten schwerwiegende Folgen haben: Investoren ziehen sich zurück, die Entwicklungshilfe wird gestoppt. Um Korruption wirksam zu bekämpfen, muss gezielter erhoben werden, wem sie tatsächlich an welchen Stellen begegnet.

Über kaum etwas besteht im Bereich der internationalen Beziehungen und der Entwicklungspolitik so weitgehende Einigkeit wie über die Korruption. Seit der ehemalige Chef der Weltbank, James Wolfensohn, sie in den 1990er Jahren als das „Krebsgeschwür der wirtschaftlichen Entwicklung“ bezeichnet hat, wird über ihre Existenz und ihr Ausmaß kaum noch diskutiert. Es gibt nur noch dringliche Aufrufe, sie unter allen Umständen zu bekämpfen. Das tun unzählige nichtstaatliche und internationale Organisationen sowie Stiftungen im Rahmen ihrer Projekte oder machen es zu ihrer Hauptaufgabe.Der Diskurs über die anhaltende und tief verwurzelte Korruption in den Entwicklungsländern lässt sich vergleichen mit dem über die zunehmende Kriminalität in Westeuropa. Gestützt von den Medien und gängigen Meinungen, ist er heute derart kulturell verankert, dass es zumindest für blauäugig gehalten wird, ihn zu hinterfragen, wenn nicht gar für verantwortungslos.

Und doch können wir nur das bekämpfen, was wir genau bestimmen können. Die Einigkeit über das „Krebsgeschwür der Korruption“ ist so breit geworden und wird so selten in Frage gestellt, dass sie unsere Möglichkeiten, Korruption zu definieren, im Ansatz schmälert und unsere Chancen, sie zu besiegen, verringert.

Analytisch betrachtet hat die Korruption zwei Gesichter und das erschwert die Diskussion erheblich. Auf der einen Seite steht die tatsächliche Praxis, also die Summe der Korruptionsfälle an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten, die niemand genau kennen kann. Auf der anderen Seite stehen die Art und das Ausmaß, wie Korruption in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Zwischen beiden besteht kein kausaler Zusammenhang. Die Wahrnehmung der Korruption ist vielmehr ein soziales Konstrukt, das sich aus verschiedenen Quellen speist. Viele Menschen, die Korruption für weit verbreitet halten, sind ihr in Wirklichkeit jedoch nie begegnet.

Eine solche Kluft zwischen der Realität und unserer Wahrnehmung gibt es auch bei anderen Phänomenen, etwa bei der Kriminalität. Alle Kriminologen akzeptieren die Unterscheidung zwischen der objektiven und der subjektiven Sicherheitslage. Ob wir uns nachts unsicher fühlen (unsere subjektive Gefährdung), hängt nicht vom statistisch nachweisbaren Risiko ab, überfallen zu werden (der objektiven Gefährdung), sondern von verschiedenen situationsbedingten und persönlichen Variablen. Ältere Frauen fühlen sich in den meisten Ländern beispielsweise in der Regel am stärksten von Kriminalität gefährdet, sie werden aber am seltensten deren Opfer.

Leider wird die Analyse der Korruption dadurch erschwert, dass ihr bekanntester Gradmesser, der Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International, von der Wahrnehmung ausgeht. Er ist bei den politischen Strategen, in den Medien und in der Öffentlichkeit so bekannt geworden, dass er als Indiz für die reale Entwicklung der Korruption angesehen wird. Die Anti-Korruptionsorganisation Transparency International stellt ihn auch als solches dar. Sie behauptet, dass die Wahrnehmung die Wirklichkeit repräsentiere. Doch zeigen unsere eigenen Untersuchungen aufgrund der Daten des International Crime Victimisation Survey aus dem Jahr 2000, dass das Ausmaß der wahrgenommenen Korruption in allen untersuchten Ländern größer ist als das der erlebten. Und, was besonders wichtig ist: Zwischen beiden besteht kein Zusammenhang.

Für die Untersuchung wurden rund 40.000 Opfer krimineller Handlungen in 25 Ländern befragt. Eine Minderheit von 13 Prozent gab an, dass sie im Vorjahr mit einem Bestechungsversuch zu tun hatte. Doch auf die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise Polizisten oder Personen aus dem Gesundheitswesen Bestechungsgeld verlangen, bevor sie eine Dienstleistung erbringen, hielten dies jeweils 60 Prozent beziehungsweise 50 Prozent für wahrscheinlich, also vier Mal so viele. Ein Extrembeispiel ist Argentinien, wo 90 Prozent der Bevölkerung annahmen, dass ein Beamter vor einer Amtshandlung Schmiergeld verlangen würde. Doch lediglich 5 Prozent bestätigten, dass sie eine solche Situation tatsächlich erlebt hatten.

Soziale Faktoren bestimmen die Wahrnehmung von Korruption

Diese Kluft unterstützt unsere Behauptung, dass die Wahrnehmung der Korruption sich nicht (nur) aus der Erfahrung mit ihr herleitet. Tatsächlich haben wir festgestellt, dass die Wahrnehmung mit dem Alter, dem Geschlecht und dem Bildungsniveau der Befragten zusammenhing. Es ist also falsch anzunehmen, dass die Korruption in einem Land ein Problem darstellt, nur weil es den Menschen dort so vorkommt. Niemand käme auf die Idee, die Sicherheitslage verschiedener Länder danach einzustufen, wie sicher sich ihre Bewohner fühlen. Das würde jeder Wissenschaftler für unsinnig halten.

Die übermäßige Berücksichtigung von Wahrnehmungsindikatoren wird allgemein damit begründet, dass zuverlässige Indikatoren der realen Korruption angeblich fehlen. Das ist aber nicht ganz zutreffend und sollte zudem möglichst schnell geändert werden, indem man zunehmend Erfahrungswerte aus Befragungen von Kriminalitäts-Opfern nutzt.

Wenn man sich auf Wahrnehmungswerte stützt, ergeben sich zwei größere Probleme für die schlecht eingestuften Länder. Erstens erscheinen sie dann als nicht hinreichend vertrauenswürdig und stabil für private Investitionen. Unternehmer scheuen das Risiko. Wenn sie annehmen, dass Korruption in einem Land weit verbreitet ist, werden sie dort nicht investieren wollen. So entgehen diesem Land wichtige Geldquellen und Qualifizierungsmöglichkeiten.

Die zweite schädliche Auswirkung betrifft die Entwicklungshilfe. Die bilateralen und multilateralen Entwicklungsorganisationen machen ihre Unterstützung vom Korruptionsindex abhängig. Verantwortliche Regierungsführung und ein geringes Ausmaß an Korruption gelten – zu Recht – als Voraussetzungen dafür, dass ein Land internationale Unterstützung erhält. Wenn die Geberorganisationen ihre Entscheidungen jedoch aufgrund unzuverlässiger Daten treffen, können falsche politische Strategien die Folge sein. Die Wahrnehmungsindikatoren für Korruption, auf die sich die Staatengemeinschaft stützt und die den Entwicklungsländern helfen sollen, könnten dann dazu beitragen, deren Entwicklungsperspektiven zu verschlechtern.

Ein Beispiel aus Palästina macht das deutlich. Eine Umfrage des Genfer Hochschulinstituts für internationale Studien aus dem Jahr 2005 zeigte, dass 90 Prozent der Befragten die Behörden Palästinas für korrupt hielten, während lediglich 8 Prozent bestätigten, sie seien aufgefordert worden, Schmiergeld zu zahlen. Es konnte nachgewiesen werden, dass Dinge, die Befragte in der Familie und in ihrem sozialen Umfeld gehört hatten, zu dieser starken Wahrnehmung von Korruption geführt hatten. Infolgedessen bekommt der Kampf gegen die Korruption eine hohe Priorität. Als Wähler werden diese Menschen selbstverständlich Beweise sehen wollen, dass die Regierung gegen die Korruption vorgeht, oder sie werden für andere Parteien stimmen, die versprechen, hart durchzugreifen. Das könnte dann insgesamt dazu führen, dass realere und drängendere Probleme von der politischen Tagesordnung verschwinden.

Trotzdem – und das ist für unseren Ansatz sehr wichtig – spielt die Wahrnehmung von Korruption eine bedeutende Rolle: nicht als Indiz für tatsächlich erlebte Korruption, sondern als Indiz dafür, wie Bürger ihren Staat wahrnehmen. Das ist in allen Ländern der Erde ein echtes Problem. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die Korruption als verbreitet wahrnehmen, auch ein schlechtes Bild davon haben, wie sensibel der Staat auf ihre Bedürfnisse reagiert und wie ansprechbar er ist. Darunter leidet die Legitimität des Staates und damit die Basis eines funktionierenden, von den Bürgern akzeptierten und harmonischen Gemeinwesens. Um auf das Beispiel Palästina zurückzukommen: Möglicherweise untergräbt der Mangel an Vertrauen, der von der Korruptionswahrnehmung mit bedingt ist, die Glaubwürdigkeit der Regierung. Das führt zu schnell wechselnden Wahlergebnissen und politischer Instabilität, die den Weg zu langfristig tragfähigen Friedensverhandlungen erschwert.

Die übermäßig vereinfachte Darstellung der Korruption muss Vorteile bringen, sonst wäre sie nicht so verbreitet. Hier sind vier Hauptbeteiligte zu erkennen. Erstens bietet die Betrachtung „Krebsgeschwür der Korruption“ jenen eine gute Basis, die Entwicklungshilfe ablehnen und behaupten, das Geld der Steuerzahler wandere nur in die Taschen von Kleptokraten. Zweitens kommt er den Medien entgegen, die über leicht verständliche Indikatoren berichten können, ohne ihr Publikum mit komplizierten Analysen abzuschrecken. Globale Indikatoren, die Länder auf einer Korruptionsskala von 0 bis 10 einstufen, sind für die Massenkommunikation sehr gut geeignet, für die Analyse hingegen sehr schlecht.

Entsprechend kann man anführen, dass die Wahrnehmungsindikatoren Transparency International in erster Linie dazu verhelfen, sich besser zu vermarkten und Geldgeber zu gewinnen. Und schließlich nutzen diejenigen, die für internationale Entwicklungshilfe zuständig sind, den Korruptionsvorwurf gern als üblichen Verdächtigen, wenn nicht gar als Sündenbock, um sich zu rechtfertigen, wenn ihnen mangelnde Erfolge vorgehalten werden. Kurz: Wenn ein Konzept so vielen verschiedenen und widersprüchlichen Interessen zugleich dient, wird es zur Binsenweisheit, deren Wert hinterfragt werden sollte.

Wo es Rauch gibt, ist auch Feuer. Korruption existiert und verursacht hohe finanzielle Schäden. Es ist richtig, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Heutzutage weiß jeder, dass Korruption in ihren verschiedenen Formen in Entwicklungsländern ein schweres Problem darstellt. Doch wird der Rauch inzwischen zunehmend zu Vernebelungszwecken eingesetzt. Die Antikorruptionsrhetorik ist allzu simpel geworden. Für einen neuen Anfang ist dringend mehr Differenzierung bei der Analyse und bei der Behandlung der Korruption nötig. Wenn man die soziale Wahrnehmung und das tatsächliche Erleben von Korruption nicht auseinanderhält, kann man nicht rational vorgehen und keine dauerhaften Ergebnisse erzielen.

Was die Wahrnehmung angeht, sollte man mit spektakulären Aufklärungskampagnen und wenig transparenten Ranglisten Schluss machen und stattdessen über das reale, statistisch fassbare und in Prozenten messbare Ausmaß der Korruption informieren. So kann die Debatte die erforderliche Sachlichkeit gewinnen. Über die real erlebte Korruption sollten verstärkt Umfragen durchgeführt werden, um neben der Wahrnehmung auch die tatsächliche Erfahrung mit Korruption analysieren zu können. Dies wird zur Zeit nicht systematisch unternommen und genutzt.

Wie bei der Untersuchung der Kriminalität können so Brennpunkte identifiziert werden, an denen die Probleme besonders geballt auftreten. Korruption verteilt sich nicht gleichmäßig über ein Territorium oder eine Verwaltung. Mit gut strukturierten Untersuchungen lassen sich die korruptesten Sektoren, Orte und Zeiten der Vorfälle, das Profil der Beteiligten auf beiden Seiten sowie die eingesetzten Geldbeträge ermitteln. Nur auf einer solchen Grundlage kann die reale Korruption unter Kontrolle gebracht werden.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

Blaise Bonvin ist Partner der Beratungsfirma TC Team Consult in Genf. Seine Spezialgebiete sind öffentliche Verwaltung und Sicherheit sowie Polizeireform.

erschienen in Ausgabe 12 / 2008: Wirkung der Entwicklungshilfe

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