Endspurt in Brasiliens vergiftetem Wahlkampf

Brasilien steht vor der wichtigsten Wahl seit dem Ende der Militärdiktatur. Überschattet wird der Wahlkampf von Fake News und Diffamierungen. Die Angst vor Unruhen nach der Bekanntgabe der Ergebnisse ist groß.

Berlin/São Paulo - Die Nerven liegen blank. Selten war ein Wahlkampf in Brasilien so polarisiert wie dieser. Wenige Tage vor der Stichwahl um das Präsidentenamt wird die Stimmung immer aggressiver: In den sozialen Netzwerken wie Twitter und Instagram ist die Auseinandersetzung zwischen den Lagern des Amtsinhabers Jair Bolsonaro und seinem linksgerichteten Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva zur Schlammschlacht verkommen. 156 Millionen Brasilianer sind am Sonntag zur Abstimmung aufgerufen. In Umfragen führt Lula, doch der Ausgang der Wahl ist völlig ungewiss.

Es sei kaum mehr möglich, über politische Inhalte zu reden, sagt der Politikwissenschaftler Guilherme Casarões von der Wirtschaftsuniversität Getúlio Vargas in São Paulo. Der Bolsonarismus sei viel stärker als angenommen. Dabei verweist er auf die Wahlergebnisse für den Kongress und der Gouverneure in den Bundesstaaten, wo Bolsonaro-Anhänger in der ersten Wahlrunde Anfang Oktober mehrheitlich gewannen. Selbst bei einem Wahlsieg hätte Lula keine Mehrheit im Kongress und könnte damit viele seiner Vorhaben nicht umsetzen.

In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos liegt Lula zwar mit knapp 50 Prozent der Stimmen vor Bolsonaro, der auf 44 Prozent kommt. Doch in der ersten Wahlrunde lagen die Umfragen daneben und hatten einen weit größeren Vorsprung für den linken Ex-Präsidenten Lula (2003 bis 2011) vorausgesagt. Offenbar wollen sich viele Wähler nicht öffentlich zu dem Rechtsextremen Bolsonaro bekennen. Zudem blieben viele Menschen der Abstimmung fern.

Zu einer der schärfsten Waffen im Wahlkampf ist das Internet geworden. Die Menschen in Brasilien hängen durchschnittlich mehr als fünf Stunden pro Tag an ihrem Handy und sind damit weltweit in der Spitzengruppe - ein lohnendes Geschäft für die unzähligen Internet-Soldaten, die für Bolsonaro Falschnachrichten verbreiten. Das Anwaltsteam aus dem Lula-Lager klagt, dass sie gegen die Tausenden Fake News pro Tag nicht mehr ankommen. Mehr als 10.000 Beschwerden wurden allein im Oktober beim Wahlgericht eingereicht.

Zu den Umworbenen, bei denen die Online-Kampagne verfängt, zählt Rosangela Oliveira. Eigentlich gehört sie zum klassischen Lager von Lulas Arbeiterpartei PT: Sie wohnt in der Peripherie von São Paulo, hat lange Arbeitstage in der Küche einer Kantine und erhielt während der Präsidentschaft von Lula eine Sozialwohnung, die sie auch heute noch bewohnt. Doch Oliveira sagt, sie vertraue Lula nicht. Er sei korrupt, der Boss einer Drogenbande und wolle Abtreibungen freigeben. Jeden Tag bekommt sie eine Flut solcher Fake News auf ihr Handy.

Lula gab sich zuletzt als Versöhner im eskalierenden Wahlkampf. „Ich möchte nicht mehr, dass Brüder miteinander kämpfen, der Vater mit seinem Sohn und Freunde sich nicht mehr besuchen“, sagte er. Wenn er gewinne, wolle er das Land befrieden und mit allen Parteien und Strömungen reden. Auch den Besitz von Schusswaffen will Lula begrenzen, denn diese würden zum Hass beitragen.

Bolsonaro hingegen kündigte an, das Ergebnis nur anzuerkennen, wenn das Militär den „Stempel der Zuverlässigkeit“ für das Wahlsystem gibt. Immer wieder schürte er Zweifel am elektronischen Wahlsystem und ordnete eine Parallelauszählung durch das Militär an. Schon jetzt ist die Angst groß, dass der extrem rechte Amtsinhaber nach einer möglichen Niederlage seine Anhänger aufwiegelt und es zu Unruhen kommt.

Beide Kandidaten haben in der letzten Phase des Wahlkampfs neue Verbündete gewonnen. Lula wird von wichtigen Personen aus dem politischen Zentrum unterstützt, zum Beispiel vom früheren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995 bis 2003). Auch die mächtige Senatorin Simone Tebet aus dem Mitte-rechts-Lager schließt sich ihm an. Viele Künstlerinnen und Künstler machen ebenfalls Werbung für ihn.

Derweil kann Bolsonaro auf die Unterstützung der gewählten und amtierenden Gouverneure zählen. Fußballstar Neymar rief ebenfalls zur Wahl des Ex-Militärs auf. „Die Menschen wissen, was das Beste für unser Brasilien ist“, sagte der Offensivspieler von Paris Saint-Germain. Bei der Weltmeisterschaft in Katar wolle er sein erstes Tor Bolsonaro widmen.

Von Susann Kreutzmann (epd)

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