Berlin - In der Debatte um neue Wege zum Klimaschutz rückt eine Meerespflanze in den Fokus, die schon heute viel Kohlenstoff bindet: die Sargassum-Alge. Fachleute des Berliner Thinktanks „Energy Watch Group“ (EWG) haben zuletzt ein Konzept vorgestellt, das mithilfe großflächiger Algenfarmen im offenen Ozean den CO2-Gehalt in der Atmosphäre massiv senken soll. Doch die Methode ist riskant - vor allem, weil sie tief in die Ökosysteme der Meere eingreifen würde.
In einem Politikpapier plädiert die EWG für ein globales Ziel zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre. Die Denkfabrik schlägt vor, bis Ende des Jahrhunderts 450 Gigatonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu entfernen, um die Erderwärmung zu begrenzen. Die Voraussetzungen dafür sollten bis spätestens 2040 geschaffen werden. Die Vision: Mithilfe der schnell wachsenden Sargassum-Alge sollen ab dann jährlich 40 Gigatonnen CO2 gebunden werden - über mehrere Jahrzehnte hinweg.
„CO2-Entnahme aus der Atmosphäre muss neben Emissionsfreiheit ins Zentrum der Klimapolitik“, fordert Hans-Josef Fell, EWG-Präsident und Mitautor des Berichts. Wachsen sollen die frei treibenden Algenplantagen vor allem in fünf subtropischen Meereswirbeln, darunter die Sargasso-See im Nordatlantik.
Laut der Denkfabrik könnte die sogenannte Ocean-Farming-Methode gleich mehrfachen Nutzen stiften: Zum einen helfe sie, historische Emissionen rückgängig zu machen, zum anderen könnten die ausgewachsenen Algen geerntet und als nachhaltige Rohstoffquelle für Baustoffe oder Nahrung genutzt werden. Durch die Einrichtung von Großalgenfarmen im offenen Ozean sollen zudem neue Einkommensquellen für Länder des globalen Südens erschlossen werden. Voraussetzung sei eine nachhaltige Nutzung. An Stränden in der Karibik und Westafrika sorgen angeschwemmte Algen bereits heute für Plagen.
Doch Probleme gibt es bereits beim Anlegen der Farmen. Denn die fünf Meeresregionen gelten auch als „Wüsten des Ozeans“. Für das schnelle Wachstum der Algen soll mithilfe senkrechter Rohre nährstoffreiches Tiefenwasser an die nährstoffarme Oberfläche gepumpt werden - eine Technik namens „Artificial Upwelling“. Diese gehört zu den Geoengineering-Ansätzen - technische Eingriffe ins Klimasystem, um die Erderwärmung zu bremsen - und ist in der Wissenschaft umstritten.
Klimaforscher Andreas Oschlies vom Geomar Helmholtz-Zentrum in Kiel warnt: „Der Ozean ist stark geschichtet - und das ist gut so, weil er in der Tiefe Unmengen CO2 speichert. Artificial Upwelling kann dazu führen, dass wir dieses CO2 wieder in die Atmosphäre befördern.“ Zudem sei das System unberechenbar: „Stellt man das Pumpen ein, steigen die Oberflächentemperaturen der Meere rasch an und übersteigen sogar das Niveau, das man ohne den Einsatz der Pumpen erreicht hätte.“ Oschlies spricht von potenziell „irreversiblen Folgen“ - etwa für Meeresströmungen, Nährstoffkreisläufe und das Klima insgesamt.
Auch politische Reaktionen fallen skeptisch aus. Zwar sieht die SPD-Bundestagsabgeordnete Dunja Kreiser Potenzial, bestehende Algenplagen für eine nachhaltige Meereswirtschaft zu nutzen: „Das könnte eine Win-win-Situation für die betroffenen Regionen sein.“ Ocean Farming mit Tiefseewasser lehnt sie aber ab: „Die Tiefsee ist ein schützenswerter Raum. Eingriffe dieser Art werden nicht spurlos bleiben.“ Violetta Bock von der Linken fordert klare soziale und ökologische Leitplanken. Es brauche eine gemeinwohlorientierte Meereswirtschaft und „ein Primat des Meeresschutzes“, sagt die Bundestagsabgeordnete.
Der Weltklimarat IPCC hält die groß skalierte CO2-Entnahme für unerlässlich, um die Erderwärmung bei der für das Klimasystem wichtigen Schwelle von 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu beschränken. Doch die bisherigen Methoden reichen nicht aus.
Aus Sicht der „Energy Watch Group“ ist deshalb ein politischer Paradigmenwechsel nötig - nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur Emissionsminderung und der Anpassung an die Klimakrise. Die Sorgen würden die viel konkreteren Gefahren, die vom Verbleib des bereits emittierten Kohlenstoffs in der Atmosphäre ausgehen, überlagern. Der Meeresbiologe Victor Smetacek von der EWG sieht in der Idee langfristig Potenzial: „Wer den Mars besiedeln will, gilt als visionär, wer CO2 entnehmen will, als Fantast - das sollten wir ändern.“ Doch der Weg dorthin dürfte umkämpft bleiben - zwischen technischen Ambitionen und ökologischen Risiken.