Das Land über die Menschen kennenlernen


Leuthold, Ruedi
Brasilien. Der Traum
vom Aufstieg
Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag,
München 2013, 207 Seiten, 17,90 Euro.

Der Schweizer Journalist Ruedi Leuthold will ergründen, was Brasilien trotz all seiner Widersprüche zusammenhält. Er hat ein anrührendes Buch geschrieben, das den Horizont erweitert. 

Der Schweizer Journalist Ruedi Leuthold möchte etwas lernen: Über Menschen, die trotz ihrer Misere fröhlich daherkommen. Und über Brasilien, in dem es „wenige Behauptungen gibt, deren Gegenteil nicht genauso zutreffend wären“. Er will mit Hilfe von Lebensgeschichten herausfinden, welcher Geist in diesem widersprüchlichen Land weht, und begibt sich auf „eine Reise in die Seele Brasiliens“ mit 16 Stationen, die ihn vom Norden (Amazonien) in den Süden (Sao Paulo) führt.

Leuthold porträtiert die verschiedensten Typen. Die Spannbreite reicht von den Frauen, die durch Schiffsmotoren auf dem Amazonas skalpiert wurden, bis hin zum Wachmann von Sao Paulo, der im größten Wohngebäude der Welt seinen Dienst tut. Deren Traum vom Aufstieg konkretisiert sich meist in einem Kampf um Respekt, der den unteren Schichten in der brasilianischen Geschichte nie gezollt wurde.

Im Unterschied zu seinen Nachbarn gab es in Brasilien nie einen Unabhängigkeitskrieg, eine echte Landreform oder eine gar soziale Revolution. So erkennt der Autor von der Sklavenhaltergesellschaft bis heute mehr Kontinuität als Wandel. Daran hätten auch die Regierungsjahre unter Führung der Arbeiterpartei PT seit 2003 nichts geändert. Das politische System sei rückständig und korrupt geblieben, die Einkommensunterschiede extrem, Diskriminierungen jeder Art an der Tagesordnung und die Bürokratie allmächtig. Die Privilegien der ökonomischen Elite seien unangetastet geblieben und Infrastrukturmängel behinderten Investitionen.

Keine Helden, nur Fußballspieler

Am besten illustriert der Politiker José Sarney diese These. Er war ein Mann der Militärdiktatur, und wurde mehr per Zufall zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten (1985 bis 1990). Für den Arbeiterführer und späteren Präsidenten Luís Inácio Lula da Silva war er vor der Wahl 2002  „der größte Dieb im Land“– und mutierte danach zu seinem wichtigsten Koalitionspartner. Politik funktioniert in Brasilien nach dem „Prinzip der erpresserischen Umarmung“, erkennt der Autor. Vielleicht hat Brasilien deshalb keine Helden hervorgebracht, sondern nur Fußballspieler und „malandros“, beliebig zu übersetzen mit Halunken, Faulpelze, Lebenskünstler.

Bei aller Kontinuität kommt aber auch Leuthold nicht umhin, zu konstatieren, dass heute 30 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer mehr zur kaufkräftigen Mittelschicht gezählt werden als vor zehn Jahren. Und dass die Unterschichten an Selbstvertrauen gewonnen haben, aufgrund des eigenen erfolgreichen Kampfes um Respekt und dank eines Metallarbeiters als Präsidenten.

Leuthold ist erstaunt, warum die Brasilianer glücklich sind, und nur er selbst Magenkrämpfe bekommt, wenn er an das Bildungssystem denkt, in dem einem Großteil der Jugend ihr Recht auf Bildung vorenthalten wird. Wie die Protestbewegung Mitte 2013 zeigte, hat dieses Glücksgefühl Grenzen. Vielleicht könnte der Autor in einem weiteren Buch stärker und über Einzelschicksale hinaus den Blick auf die unzähligen sozialen Bewegungen und Basisorganisationen lenken, die etwa im kritischen Protest gegen die Fußball-WM oder im Widerstand gegen den Bau gigantischer Staudämme entstanden sind.

Das Buch ist gut geschrieben – manche effekthascherischen und verallgemeinernden Sätze lassen sich verzeihen. Es liest sich leicht und am Ende hat man über die „Geschichten von unten“ mehr verstanden, wie dieses faszinierende Land tatsächlich funktioniert. (Werner Würtele)

Erschienen in welt-sichten 11-2013

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