Literarischer Jahresbegleiter

Eduardo Galeano
Kinder der Tage
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2013
411 Seiten, 24 Euro 

Der uruguayische Autor Eduardo Galeano hat ein besonderes Kalenderbuch vorgelegt. Tag für Tag lenkt er den Blick darauf, wie sich ungerechte Verhältnisse verändern lassen.

Galeano zählt mit seinen Sachbüchern und Zeitungskolumnen zu den wichtigsten politisch-literarischen Stimmen der spanischsprachigen Welt. In seinem neuen Buch greift er in 366 kurzen Kalenderblättern – teils nur wenige Zeilen lang, maximal eine Druckseite –  Jubiläen, Geburts- und Sterbetage sowie Eckdaten historischer Entwicklungen auf. Davon ausgehend erinnert er daran, wie einzelne Menschen sich zum Handeln entschlossen und mitunter den Lauf der Dinge beeinflusst haben.

Etwa in puncto Frauenemanzipation: Unter dem 8. Januar schreibt Galeano über das Schicksal der Ecuadorianerin Manuela León, die an jenem Tag im Jahr 1872 hingerichtet wurde, weil sie sich gegen Fronarbeit und Tributzahlungen aufgelehnt hatte. Der Staatspräsident ließ auf dem Todesurteil ihren Vornamen in „Manuel“ ändern, weil er dem Erschießungskommando keine Frau überstellen wollte. Eine doppelte Anklage: Gegen das heute unverhältnismäßig wirkende Strafmaß, und gegen die Heuchelei eines mächtigen Mannes.

Auch Vertreter christlicher Kirchen kommen nicht gut weg. Der Autor lobt zwar Seelsorger, die sich aktiv für Verfolgte, Landlose und Arme einsetzen. Doch er klagt jene an, die sich auf die Seite der Unterdrücker schlagen. Entlarvend ist etwa die publicityträchtige Einlassung eines evangelikalen US-Predigers, der kurz nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti 2010 verkündete, dies sei eine Strafe Gottes für die Befreiung der Schwarzen von der Sklaverei gewesen.

Lyrik am „Tag der Verschwundenen“

Immer wieder bilden drei oder vier aufeinander folgende Texte kleine thematische Bögen. So entsteht zum Beispiel eine Verbindungslinie von der Südamerikanerin, die im 18. Jahrhundert verhaftet wurde, weil sie unerlaubterweise auf dem Marktplatz Handel getrieben hatte, zur New Yorkerin, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei einer demokratischen Wahl ihre Stimme abgab, obwohl dies den Männern vorbehalten war. Kurioserweise, aber in gewissem Sinne folgerichtig, schließt sich ein augenzwinkerndes Lob auf das Fahrrad an: „In Wahrheit war das Fahrrad schuld daran, dass sich die Frauen unabhängig bewegten, aus dem Hause flohen und die gefährlichen kleinen Freuden der Freiheit genossen.“

Einige Kalenderblätter führen in dunkle Geschichtsepochen. Am 24. März erinnert Eduardo Galeano an die Rechtfertigung des argentinischen Diktators Videla, weshalb die Militärs Tausende Landleute hatten verschwinden lassen. Aus dem Mund des Täters klingt es wie ein banaler Schutz vor lästigen Auseinandersetzungen mit den Angehörigen der Opfer: „Wenn sie für tot erklärt werden, dann gibt es sofort Fragen, die wir nicht beantworten können“, zitiert Galeano den  inzwischen im Gefängnis verstorbenen General.

Am 30. August, dem Internationalen Tag der Verschwundenen, zählt der Autor in lyrischer Form auf, was aus dem Alltag vieler Menschen in den zurückliegenden Jahrzehnten verschwunden ist: „Die unberührten Wälder / das Fußballspielen auf der Straße / Häuser ohne Zäune / Türen ohne Schlösser / der Sinn für die Gemeinschaft / und der gesunde Menschenverstand.“ An solchen Stellen verbindet sich der Protest gegen die machtvollen Lenker mit dem Aufruf an alle, sich für eine menschenfreundlichere Gesellschaft einzusetzen.

„Kinder der Tage“ ist ein Lesebuch, das verblüffende Querverbindungen zwischen Personen, Institutionen und Bewegungen aus ganz unterschiedlichen Epochen zieht und immer wieder spannende, verblüffende Erkenntnisse bietet. Der engagierte literarische Begleiter durchs Jahr sei einem breiten Publikum empfohlen. (Thomas Völkner)

Erschienen in welt-sichten 12-2013/1-2014

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