Die Macht der Träume

Andrea Hirata
Die Regenbogentruppe
Hanser Verlag, Berlin 2013
270 Seiten, 19,90 Euro

Der indonesische Autor Andrea Hirata erzählt in seinem Roman von Bildung und Freundschaft – und er gewährt Einblicke in eine Kultur, die hierzulande vielen fremd sein dürfte.

Nach dem Regen klettern die zehn Kinder auf den Baum, der vor der Schule steht, und warten auf den Regenbogen. Hier haben sie sich gegenseitig Hilfe und fleißiges Lernen versprochen. Sie halten zusammen und trotzen dem Gegenwind, der ihrer Schulgemeinschaft gewaltig ins Gesicht bläst. 

Andrea Hirata erzählt in „Die Regenbogentruppe“ eine außergewöhnliche Geschichte, die zu einem großen Teil auf der eigenen Biographie fußt. Genau wie sein Ich-Erzähler Ikal besuchte der indonesische Autor eine Zwergschule auf der malaiischen Insel Belitung. Im Leben wie in der Fiktion handelt es sich um eine spartanische Bildungseinrichtung der islamischen Muhammadiya-Bewegung. Die Organisation hat in Indonesien 30 Millionen Mitglieder und betreibt zahlreiche Bekenntnisschulen, in denen vor allem Kinder aus armen Familien unterrichtet werden. Statt eines Schulgeldes wird um Spenden gebeten.

In dem Roman blickt ein junger Mann im Abstand von zehn Jahren auf seine Schulzeit zurück. Er beginnt mit dem ersten Schultag, an dem es zunächst nicht sicher ist, ob die von den Behörden geforderte Mindestzahl von zehn Schülern überhaupt erreicht wird, und endet mit dem Entschluss, das Erlebte aufzuschreiben. Der Text ist sprachlich recht schnörkellos und inhaltlich direkt. Europäische Leser ziehen aus der Lektüre einen doppelten Gewinn: Sie erfahren viel über eine Kultur, die selten den Weg in die zeitgenössische Belletristik findet. Und sie werden in der Auffassung bestätigt, dass der Erwerb von Bildung besonders dort ein hohes Gut darstellt, wo die Bedingungen alles andere als ideal sind.

Die östlich von Sumatra gelegene Insel Belitung ist für den Abbau von Zinnerzen bekannt. Von der holländischen Kolonialzeit bis in die jüngere Vergangenheit waren alle Aspekte des Zusammenlebens diesem Wirtschaftsfaktor untergeordnet. Die meisten der gut 150.000 Bewohner verrichteten dabei einfache Arbeiten oder verdingten sich als Tagelöhner. Nur eine kleine Schicht von hochrangigen Mitarbeitern des Bergbaukonzerns lebte im Wohnstand. Ikal drückt es so aus: „Wir, die alteingesessenen Bewohner von Belitung, glichen einer Schar Mäuse, die mitten in einem zum Bersten gefüllten Reisspeicher Hunger litten.“

Der Gegenentwurf zur Schule: Kinderarbeit

Für die Schulkinder und ihre Eltern stellt der Unterricht den einzigen Ausweg aus dem Kreislauf aus Armut, Abhängigkeit und Ausbeutung dar. Wenn es auch unwahrscheinlich ist, dass die Mädchen und Jungen der „Regenbogentruppe“ eines Tages allesamt lukrative Jobs erhalten, so werden sie durch ihre Schulbildung in die Lage versetzt, ihren Horizont zu erweitern und persönliche Ambitionen zu formulieren. Etwa Mahar, ein Junge mit künstlerischen Talenten, der den Auftritt der Schulklasse beim Karnevalsumzug organisiert. Oder der geistig behinderte Harun, der von seinen Mitschülern über alle Hürden der Schulzeit gehievt wird. Oder Lintang, der hochbegabte Sohn eines Fischers, der jeden Tag 40 Kilometer zur Schule radelt und dessen Auffassungsgabe phänomenal ist. Er wird schnell zum Vorbild für seine Mitschüler: „Wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir wahrscheinlich nie angefangen, eigene Vorstellungen zu entwickeln, hätten wir nie gewagt, zu träumen.“

Andrea Hirata singt nicht nur das Hohelied auf die Bildung, sondern zeigt auch drastisch die Widerstände auf. Weil die Bergwerksfirma in der Erde, auf der die Schule steht, einen hohen Zinnanteil vermutet, will sie das Gebäude kurzerhand abreißen lassen. Die Auseinandersetzung gegen einen übermächtigen Gegner verlangt von der „Regenbogentruppe“ und ihrer jungen Lehrerin viel Courage. Ebenfalls als Kontrapunkt zum Bildungsideal geraten jene Kapitel, in denen die Schulkinder beim Geldverdienen gezeigt werden. Hier sind sie Kokosfleischraspler, Brotverkäufer, Pfefferpflücker, und es wird deutlich, was auf Belitung der übliche Gegenentwurf zum Schulbesuch darstellt: Kinderarbeit.

Am Ende des Buches gibt es für die ehemaligen Schulfreunde kein gemeinsames Warten auf den Regenbogen mehr. Doch zumindest einer von ihnen erhält die Chance, in seinem Leben etwas Besonderes zu erreichen. (Thomas Völkner)

Erschienen in welt-sichten 2-2014

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