Wenn der Reformmotor stockt

Dieter Boris
Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika
PapyRossa Verlag, Köln, 2014,
202 Seiten, 14, 90 Euro

Der Lateinamerikaexperte Dieter Boris analysiert die Entwicklung in den links regierten Ländern Lateinamerikas. Er findet Fortschritte, aber keinen grundlegenden Wandel.

Der Prozess des Wandels in Lateinamerika scheint auf der Stelle zu treten. Der Reformmotor stockt. Brasilien und Venezuela werden von Protestwellen erschüttert. Diesseits des Atlantiks drohen Hoffnungen in Katzenjammer umzuschlagen – oder in Realitätsverweigerung. Was ist los in den Ländern des vielbeschworenen „Linksrucks“ in Lateinamerika, die die aktuelle Wirtschaftskrise meist viel besser überstanden haben als ihre neoliberalen Nachbarn?

Abschließende Antworten kann auch das vorliegende Buch nicht geben. Schon deshalb nicht, weil wissenschaftliche Recherche und Tagesaktualität auseinanderklaffen. Dieter Boris, emeritierter Soziologieprofessor der Universität Marburg und Lateinamerikaspezialist, analysiert die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Prozesse nach Themenbereichen. Dafür wählt er exemplarische oder besonders signifikante Fälle aus. Sein Fokus liegt auf den „Schwergewichten“, wie Argentinien, Brasilien und Venezuela, doch stellt er auch markante Einzelbeispiele dar, wie die Ressourcenpolitik in Ecuador im Zusammenhang mit der Yasuní-Initiative.

Die Analyse ist facetten- und detailreich, wissenschaftlich und theoriegeleitet. Das Buch ist trotzdem lesbar. Boris folgt der Unterscheidung zwischen den eher sozialdemokratisch-reformistischen Ansätzen (Chile, Brasilien, Uruguay) und denen mit revolutionärer Rhetorik (Bolivien, Ecuador, Venezuela), die grundlegende Umwälzungen anstreben.

Und er stellt fest: Oft lassen sich Entwicklungen eben nicht einem dieser Blöcke zuordnen. So ist auf dem Halbkontinent die Zustimmung zur Demokratie laut Latinobarometer von 48 Prozent im Krisenjahr 2001 auf 58 Prozent im Jahr 2006 angewachsen. Und zwar besonders stark in Bolivien, Venezuela, Argentinien und Uruguay. Hier tritt eine Schwäche des Buches zutage. Das reiche empirische Zahlenmaterial ist sehr viel dichter bis zu den Jahren 2006/2008; danach scheint es sich häufig eher um sporadische Aktualisierungen zu handeln.

Unter dem Strich sieht Boris ökonomische und soziale Fortschritte, die nicht zu unterschätzen sind. Ein grundlegender Systemwandel sei indessen selbst in den Staaten mit ambitionierter Umwälzungsrhetorik bisher ausgeblieben. Es fehle offenbar für eine neue Etappe die strategische Zielstellung, die über das Erreichte hinausweist.

Robert Lessmann

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