Dem Terror entkommen

Vaddey Ratner und Rithy Panh schreiben über das Schreckensregime der Roten Khmer in Kambodscha – aus eigener Erfahrung, aber unterschiedlichem Blickwinkel. Beide Bücher sind lesenswert.

April 1975, Phnom Penh. Der Terror schleicht sich langsam in das Leben der siebenjährigen Raami, dem Nesthäkchen der Großfamilie eines Angehörigen des kambodschanischen Königshauses. Zuerst hört sie ihren Vater, einen Dichter und Uni-Dozenten, nach dem Spaziergang seufzen, dass die Straßen voll obdachloser Menschen seien. Dann hört sie Bombenexplosionen in der Ferne. Später streiten ihre Eltern über die Notwendigkeit, ins Exil zu gehen. Ein junger Mann in Schwarz dringt ins Haus ein. Der Rote Khmer fuchtelt mit der Pistole herum und zwingt die Familie im Namen der Revolution, ihre Villa und die Stadt zu verlassen. Es ist der Beginn eines Martyriums. Die maoistische Guerillabewegung ermordete während ihrer Herrschaft von 1975 bis 1979 bis zu zwei Millionen Menschen, um in Kambodscha ihre Utopie einer klassenlosen, bäuerlichen Gesellschaft ohne Geld, Individualismus und westliche Einflüsse zu realisieren.

Die Autorin war bei der Machtübernahme fünf Jahre alt. Sie erzählt ihre Geschichte aus der damaligen Kinderperspektive. Das ist die große Stärke dieses Buches: Das Mädchen schaut unvoreingenommen auf den Alltag im Arbeitslager, wo sie ihre Herkunft verbergen muss. Ein älteres Bauernpaar nimmt sie, die Mutter und ihre kleine Schwester in der Hütte auf. Bauer Pok zimmert sogar einen Sarg für die an Malaria gestorbene Schwester, ein Akt der Menschlichkeit. Für die Roten Khmer sind die Leichen der aufs Land deportierten Städter „nur Dünger fürs Feld“. Die Erzählperspektive hat aber auch Schwächen: Das Kind kann seine Erlebnisse nicht historisch einordnen und versteht die Motive und Ideologie der Täter nicht. Ein erklärendes Nachwort fehlt.

Mehr Einordnung bietet der autobiografische Bericht „Auslöschung“ des kambodschanischen Dokumentarfilmers Rithy Panh. Er schildert seine Auseinandersetzung mit dem berüchtigten Folterchef des Pol-Pot-Regimes: „Duch“ hat den Tod von 13.000 Menschen zu verantworten. Panh interviewt ihn 30 Jahre später im Gefängnis für einen Film.  Er versucht, dem hochintelligenten Mann ein Geständnis abzuringen und seine Taten zu verstehen. Je mehr er sich verbeißt, desto stärker kommen Erinnerungen hoch.  Rithy Panh ist 13, als die Roten Khmer Pnohm Penh erobern. Sein Vater war Lehrer, Rektor und Büroleiter mehrerer Erziehungsminister – für die Roten Khmer ein Feind. Panh berichtet in einem zweiten, alternierenden Erzählstrang von der Odyssee seiner Familie durch ein Land voller Lager, Hunger, Seuchen, in dem Menschen keine Rechte mehr haben. Seine Eltern sterben. Er selbst entkommt der Todesmaschinerie als Leichenträger in einem Spital.

Zwei Berichte, zwei Ansätze: Ratner erzählt vom Genozid in der Form einer berührenden Lebensgeschichte, ihr Buch trägt aber kaum zum Verständnis der Hintergründe bei. Panh wechselt die Perspektive, assoziiert, analysiert, räsoniert, stellt historische Bezüge her, verliert zuweilen den roten Faden. Er erklärt den Aufstieg der Roten Khmer mit der im Volk weit verbreiteten Wut auf die vorigen Unrechtsregime, die US-Bombardements des Hinterlands sowie die Unterdrückung der Bauern. Er unterteilt die Mörder in junge Mitläufer und Drahtzieher, die an ihre Mission glauben und sich Allmacht anmaßen. Aus beiden Augenzeugenberichten spricht eine große Dringlichkeit: Die Autoren müssten endlich ihre Erlebnisse in Worte fassen. 

Eric Breitinger

Vaddey Ratner
Im Schatten des Banyanbaums
Unionsverlag, Zürich 2014,
384 Seiten, 21,95 Euro

Rithy Panh
Auslöschung
Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet
Hoffmann und Campe, Hamburg 2013,

240 Seiten, 19,90 Euro

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