Leben zwischen Stadt und Land

Einhard Schmidt-Kallert, Peter Franke (Hg.)
Livelihood Strategies of Multi­locational
Households in the Peoples Republic of China
Klartext Verlag, Essen 2013,
251 Seiten, 24,95 Euro

Einhard Schmidt-Kallert und Peter Franke beleuchten in ihrem Buch die Schicksale von Wanderarbeitern in China. Sie zeichnen ein lebendiges Bild von den sozialen und ökonomischen Strategien „multilokaler“ Haushalte.

Migration einmal anders betrachtet: Aus der Perspektive der Raumplanung, der Soziologie und des politischen Aktivismus werden die Beziehungen von chinesischen Familien untersucht, deren Mitglieder an unterschiedlichen Orten leben. Die Grundlage der Analyse bilden 78 Interviews, die mit Frauen und Männern unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft in drei sogenannten „Migrationskorridoren“ geführt wurden, jeweils zwischen ländlichen Provinzen und den Metropolen Peking, Chongqing und dem Perlflussdelta.

Ziel der Studie war es, ein ganzheitliches Verständnis der Urbanisierungsprozesse und der Art und Weise zu erhalten, wie „multilokale“ Haushalte ihr Leben organisieren. Die Forscher konzentrierten sich vor allem auf die subjektiven Entscheidungsprozesse und das Zusammenspiel zwischen Politik und Migrationsstrategien. Während die ältere Generation die Migration eher als Zwang erlebte, Geld zu verdienen, empfinden die Jüngeren sie als Wahlfreiheit. Obwohl sich alle Befragten noch stark zu ihrer Heimatregion zugehörig fühlten, betrachtet die jüngere Generation ein Leben von der Landwirtschaft kaum noch als Option.

Die Beweggründe und die Migrationsverläufe variieren allerdings stark, so dass keine Muster herausgearbeitet werden können. Zusammenfassend wird erklärt, dass die Jüngeren weniger weit entfernte Migrationsziele ansteuern als die Älteren und stark von der Migrationsgeschichte der Verwandtschaft geprägt sind. Geschlecht, Alter, Persönlichkeit und der Einfluss der Familienmitglieder seien in der Regel ausschlaggebender für die Entscheidung, zu migrieren, als rein ökonomische Gründe. Insgesamt wird jedoch deutlich: Die Familien sind auf die finanziellen Mittel angewiesen, die mit Hilfe der Migration erwirtschaftet werden.

Die zentralen Kapitel der Studie befassen sich mit den ökonomischen und sozialen Strategien der Migrationsfamilien. Die Analyse ergab eine Typologie, die sowohl Geldtransfers als auch Systeme von Verpflichtungen erfasst. Schwiegereltern kümmern sich um die Kinder, Brüder im Dorf um die ältere Verwandtschaft. Sie erhalten dafür beispielsweise vom migrierten Familienmitglied finanzielle Hilfen wie Kredite für den Hausbau. Die Autoren liefern ein umfassendes Bild der unterschiedlichen Strategien und Herausforderungen.

Die Autoren der Studie machen deutlich, dass die vor kurzem eingeführten ländlichen Sozialversicherungssysteme nur langsam greifen. Viele Unklarheiten bestehen weiter etwa bei der Behandlung in einem ländlichen oder städtischen Krankenhaus oder wenn es um die Versorgung der Kinder von Migranten geht.

In dieser Übergangsphase wirke sich das Fehlen von funktionierenden Familienstrukturen und sozialen Einrichtungen besonders grausam auf die Schwächeren der Familie aus, wie Alte, Kranke und Kinder, so die Autoren. Die zahlreich eingestreuten Interviewzitate bieten einen Einblick in das Erleben der Migranten – das ist vielleicht das Wertvollste an der Studie. Die Lebensumstände der ungelernten Arbeiter, die ständig der Verfolgung durch Polizei oder Räuberbanden ausgesetzt sind oder in Massenunterkünften ohne rechtlichen Schutz vor unmenschlichen Arbeitsbedingungen leben, werden durch die wörtlichen Zitate sehr plastisch.

Die Studie kommt ohne viel Theorie in diesem sonst so theorieüberfrachteten Forschungsgebiet aus und konzentriert sich darauf, einzelne Fälle zu beschreiben. Multilokale Haushalte und ihre Strategien besonders für die familiäre Fürsorge werden in ihrer Gänze geschildert. Es wäre wünschenswert, das reichhaltige Material weiter auszuwerten und deutliche Muster der Familienwirtschaft auch regional herauszuarbeiten.

Die chinesische Forschung zu den Strategien multilokaler Haushalte sollte ebenfalls einbezogen werden. Dieser Band bietet einen tiefen Einblick in die Lebensschicksale der Arbeitsmigranten aus drei unterschiedlichen Regionen und Generationen. Er ist ein willkommener Anstoß, den Ansatz der multilokalen Haushalte, der für Afrika und Indien gründlich erforscht ist, stärker vergleichend in der Migrationsforschung zu China zu berücksichtigen.

Nora Sausmikat
 

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