Vertrauen auf die Kraft der Kultur

Lyonel Trouillot
Die schöne Menschenliebe
Liebeskind-Verlag, München 2014, 192 Seiten, 16,90 €
 
Trouillot, der in Port-au-Prince französische und kreolische Literatur lehrt, stellt zwei unbeliebten Vertretern der Diktatur und des sie stützenden Kapitals die Gemeinschaft armer, kreativer Dorfbewohner gegenüber. Sein Roman ist eine Hommage an die schöpferischen Kräfte der Volkskultur. Die junge Anaïse kommt aus Europa nach Port-au-Prince und trifft den Chauffeur Thomas, der sie in das entlegene Dorf Anse-à-Fôleur an der Nordküste fährt. Sie sucht nach Spuren ihres Großvaters Robert Montès. Der, ein erfolgreicher Geschäftsmann, und sein Freund, der ehemalige Polizeichef Pierre André Pierre, verschwanden spurlos, als ein Brand ihre benachbarten Häuser in Schutt und Asche legte.
 
Im Dorf äußert sich niemand dazu, niemand trauert den beiden nach. Es bleibt ein Rätsel, ob sie einem Racheakt zum Opfer fielen oder selbst das Feuer legten und das Dorf verließen, um ihre kriminellen Machenschaften zu vertuschen. In einem atemlosen, langen Monolog spricht Thomas über Gott und die Welt, über das chaotische und lärmende Leben in der haitianischen Hauptstadt, über Anse-à-Fôleur, die Fischer und ihre Abenteuer auf See, seinen blinden Onkel, der ebenfalls im Dorf lebt, die Verbrechen des Polizeichefs und seines Freundes. Anaïse schildert ihr Leben in der Stadt, vergleicht Haiti und Europa und berichtet, was ihre Mutter über den Großvater erzählt hat.
 
Die Volkskultur liegt Trouillot am Herzen. Sie habe subversives Potenzial und halte Lösungsvorschläge für Haitis Probleme bereit, sagt er. Die Elite des Landes hingegen imitiere europäische und amerikanische Vorbilder. Trouillot engagiert sich politisch, er kämpfte einst gegen den Diktator Jean-Claude Duvalier und wandte sich ebenfalls gegen Jean-Bertrand Aristide, „jenen ehemaligen Hoffnungsträger der Armen, deren Vertrauen er missbrauchte und der in seiner zweiten Amtszeit zum Tyrannen wurde.“
 
Dem gegenwärtigen Präsidenten Michel Martelly wirft er Vetternwirtschaft, Verschwendung und Inkompetenz vor. Äußerst kritisch steht er auch den internationalen Hilfsorganisationen gegenüber, die seit dem Erdbeben im Januar 2010 zahlreich im Land vertreten sind. Sie müssten des Landes verwiesen werden, findet er, denn sie hätten die wirtschaftliche Macht an sich gerissen und nur ihren Vorteil und ihr eigenes Überleben im Sinn.
 
Trouillots Romane stehen in der Tradition des lateinamerikanischen magischen Realismus, der auch in Haiti viele Anhänger hat. Bücher aus Europa sind für viele Haitianer zu teuer – der Autor handelte deshalb mit seinem französischen Verleger aus, dass ein Teil der Auflage in seiner Heimat günstiger verkauft werden darf. (Klaus Jetz)

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