Umfassender Blick auf Namibia

Die britische Historikerin Marion Wallace hat ein sachliches und zugleich engagiertes Grundlagenwerk zur namibischen Geschichte vorgelegt: eine lohnenswerte Lektüre, auf die in jedem Reiseführer hingewiesen werden sollte.

Wallaces Buch ist ursprünglich 2011 bei Hurst in London erschienen. Die deutsche Übersetzung ist ein seltener Glücksgriff für alle, die an profunder Geschichtsschreibung über Namibia interessiert sind, sich aber mit englischer Literatur eher schwer tun. Viel zu lange dominierte im deutschsprachigen Bereich ein selektiver Blick auf die verschiedenen Aspekte und Etappen der Landesgeschichte – in unterschiedlicher bis gegensätzlicher politischer Perspektive und Qualität, und oft getrübt von anachronistisch anmutender aber durchaus noch aktueller Kolonialnostalgie. Marion Wallace hat diese Lücke geschlossen. Sie bietet einen umfassenden und soliden Blick auf Namibia, das im März vor 25 Jahren seine Unabhängigkeit gefeiert hat.

Die Autorin, Kuratorin der Afrikanischen Sammlung der British Library in London, promovierte mit einer Studie zum Gesundheitswesen in Windhoek zwischen 1915 und 1945 und beschäftigte sich vor allem eingehend mit der Sozialgeschichte des Landes.  Für ihr Buch hat sie den in Windhoek lebenden Archäologen John Kinahan hinzugezogen, der eine Koryphäe zur Frühgeschichte des heutigen Namibia ist. Herausgekommen ist ein Werk, das sich bereits dauerhaft als Grundlage der zusammenfassenden Darstellung und Einordnung historischen Wissens etabliert hat. In zehn Kapiteln wird auf nahezu 500 Seiten mit umfangreichen Quellen der heutige Kenntnisstand präsentiert, ergänzt um wenige, aber sehr aufschlussreiche und sorgfältig gewählte Bilddokumente.

Wallace ist um eine angenehme Sachlichkeit bemüht, die das persönliche Engagement nicht verleugnet. Dies zeigt sich besonders in der gesonderten Darstellung des deutsch-namibischen Krieges zwischen 1904 und 1908, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Hier erweist sich Wallace auch mit der Wiedergabe und Bewertung einer insbesondere deutschen Debatte über Schuld und Verantwortung, die in ihrer Vehemenz an einen „Historikerstreit“ grenzt, als ausgesprochen kenntnisreich. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass in ihrer Sicht die damalige deutsche Kriegsführung und die Behandlung der Besiegten in dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts gipfelten.

Jedoch weisen die sensiblen Überlegungen am Ende dieses Kapitels weit über die Zusammenfassung der Beweise und die eindeutige Zurückweisung jeglicher Verharmlosung hinaus. Wallace steckt die Gefahrenzonen ab, die durch den zum Teil erbitterten Austausch gegensätzlicher Behauptungen und Interpretationen geschaffen worden sind und damit die Sicht auf weitere „blinde Flecken“ verstellen. Die gibt es immer noch, und zwar gerade weil der Krieg eher zur deutschen als zur namibischen Angelegenheit wird. Wallace plädiert für einen „neuen Blick“, der die Afrikaner in den Mittelpunkt stellt, die in die Ereignisse verwickelt beziehungsweise davon betroffen waren.

Einziger Kritikpunkt: Die seit der englischen Erstveröffentlichung erschienene neuere Literatur wurde nicht berücksichtigt. Dies macht sich insbesondere in dem mit „Schlussfolgerungen“ etwas irreführend betitelten letzten Kapitel negativ bemerkbar, das einige eher kursorische Gedanken zur nachkolonialen Entwicklung bietet. Doch die Verdienste dieses Nachschlagewerkes, dessen Nutzung durch ein Glossar und einen Index noch erleichtert wird, werden dadurch keinesfalls geschmälert. Für alle, die sich mit der Landesgeschichte genauer vertraut machen wollen, ist das Werk sowohl finanziell als auch zeitlich eine lohnenswerte Investition. Ein Hinweis darauf sollte in keinem Reiseführer fehlen.

Henning Melber
 

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