Aufräumen mit der Scheinwelt

In seinem Dokumentarfilm „The Look of Silence“ thematisiert der US-amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer die brutale Verfolgung der indonesischen Linken vor 50 Jahren und die Straflosigkeit der Täter. In Indonesien darf der Film offiziell nicht gezeigt werden.

In einem Garten im Norden der indonesischen Insel Sumatra: Der Optiker Adi Rukun packt seine Instrumententasche aus. Der Kunde, dem er die Brillengläser anpasst, ist heute ein Greis mit zahnlosem Mund. Vor 50 Jahren war er bei allen in der Gegend gefürchtet. Denn er gehörte zu jenen, die vermeintliche Kommunisten abschlachteten. Zu dem Blutbad, das Hunderttausende Menschenleben kostete, hatte das Militär unzählige Zivilisten angestachelt. Eigentlich dürfe man Menschen nicht zerstückeln, sinniert der gläubige Muslim. Doch bei schlechten Menschen sei es erlaubt. Was ihn davor bewahrt habe, bei seiner blutigen „Aufgabe“ verrückt zu werden: Das Blut der Ermordeten zu trinken.

Adi Rukun, der dem Massenmörder gegenüber sitzt, ist nicht irgendein Optiker. Sein älterer Bruder Ramli wurde 1965 ermordet – auf die gleiche Weise, wie der Alte sie schildert. Rukun macht sich auf eine Reise, von der es keine Wiederkehr in die „Normalität“ gibt. Er trägt Einzelheiten zum Mord an seinem Bruder zusammen, um schließlich die Mörder damit zu konfrontieren. Erbarmungslos hält die Kamera auf jene, denen sich das Grauen eingeschrieben hat: Rukuns kranker Vater, der sich nicht an seinen Erstgeborenen erinnert; die Mutter, die nach dem Verlust ihres Erstgeborenen mit beinahe 50 noch einmal ein Kind gebar – Adi.

Da ist der Bruder der Mutter, der als Gefängniswärter dafür sorgte, dass die Verhafteten nicht entkamen. Da sind die Mörder in der Nachbarschaft, die sich nie für ihr Tun verantworten mussten und deren Kommandeure heute hohe politische Ämter bekleiden. Und da ist immer wieder der Satz: „Was gewesen ist, ist gewesen.“ Aus dem Mund der Opfer spricht Resignation, aus dem der Täter die Drohung, dass jene, die zu sehr an der Geschichte rühren, riskieren, dass sich diese wiederholt. Adi Rukuns beharrliche Suche macht allen Beteiligten klar, dass ihre „Normalität“ eine Scheinwelt ist. Er verstößt damit gegen alle Konventionen, gegen die „Kultur“ des harmonischen Miteinanders, die vor allem der Stabilisierung der Macht gilt.

„The Look of Silence“ ist nach „The Act of Killing“ der zweite Film von Joshua Oppenheimer über die Ereignisse von 1965 in Indonesien, die die Basis für die 32-jährige Diktatur des prowestlichen Generals Suharto bildeten. Zuvor hatte Indonesiens erster Präsident Sukarno in einer riskanten Schaukelpolitik zwischen zivilen linken, nationalistischen und religiösen Kräften und dem Militär zu vereinen versucht, was angesichts des Kalten Krieges nicht zu vereinen war. Schließlich entführte und ermordete eine Gruppe links gerichteter Offiziere sieben prowestliche Militärführer, von denen sie annahmen, dass sie mit einem Putsch Präsident Sukarno entmachten wollten. General Suharto setzte sich an Sukarnos Stelle, schob die Schuld am „Putsch“ den Linken zu und ließ alle politischen Gegner ausschalten.

Mit der Zerschlagung der damals drittgrößten kommunistischen Partei der Welt (sie ist bis heute in Indonesien verboten) wurde die „rote Gefahr“ gebannt und – anders als in Vietnam – mussten die USA im größten und ressourcenreichsten Land Südostasiens keinen einzigen GI „opfern“.
Nachdem kritische Intellektuelle, Gewerkschaftsführer und Frauenrechtsaktivistinnen entweder ermordet oder im Gefängnis waren, wurden die Wirtschaftsgesetze des Landes neu geschrieben. Westliche Investoren gaben sich in Jakarta die Klinke in die Hand und Großunternehmer freuten sich über die Re-Privatisierung der zuvor verstaatlichten Firmen.

Der Rest ist Geschichte. Und Gegenwart. In einer Szene des Films sitzt Adi Rukuns Sohn im Geschichtsunterricht, wo der Lehrer viele Worte für die vermeintliche Brutalität der Kommunisten findet, vor denen die Armee die Nation bewahrt habe. Kein Wort über die Grausamkeit mit der Hunderttausende Menschen von Milizen und Militärs ermordet wurden; kein Wort über Folter und systematische sexuelle Gewalt in Gefängnissen. Bis heute sind die Täter straflos geblieben und an Indonesiens Schulen ist Suhartos Geschichtsversion weitgehend unangetastet. In den Diktaturjahren errichtete Monumente, die Suharto als „Retter der Nation“ und „Vater des Wirtschaftsaufschwungs“ preisen, dominieren noch immer das öffentliche Geschichtsbild.

Immerhin ist es dank der Beharrlichkeit zivilgesellschaftlicher Gruppen seit Suhartos Rücktritt 1998 gelungen, die Stimmen der Überlebenden zumindest einem Teil der Öffentlichkeit vernehmbar zu machen. Opferverbände formierten sich, Bücher und Filme entstanden und progressive Historiker arbeiten mit jungen Lehrern und Dozenten daran, eine alternative Sicht auf die Geschichte zu verbreiten.

Doch dieses Bemühen wird immer wieder behindert: Treffen von Überlebenden werden mit Gewalt aufgelöst. Diskussionen und Filmvorführungen von der Polizei mit Hinweis auf die „Gefährdung der Sicherheit“ verboten. So geschah es auch einige Male bei Vorführungen von „Look of Silence“. Offiziell darf der Film nicht im Kino laufen. Trotzdem haben ihn Tausende Menschen in von Aktivisten und Studenten organisierten Vorführungen gesehen, Er hat die Diskussionen über die überfällige Aufarbeitung der Geschichte weiter vorangetrieben.

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