Melodram in der Eiswüste

In seinem Spielfilm erzählt Milko Lazarov in elegischen Bildern von einem alten Rentierjägerpaar, das in einer Jurte im Nordosten Sibiriens lebt. Es ist ein melancholischer Abgesang auf eine selbstgenügsame Lebensform, die schon bald verschwinden wird.

Schon die erste Bildsequenz entfaltet einen magischen Zauber: Die alte Sedna spielt, gekleidet in eine farbenprächtige Tracht, mit leisem Lächeln ein altes Lied auf der Maultrommel. Die exotischen Klänge stimmen auf ein Epos ein, das gleichsam am Ende der Welt angesiedelt ist. Sedna und ihr Mann Nanouk wohnen im ewigen Eis in der Republik Sacha (Jakutien) im Nordosten Sibiriens. Sie gehören dem Volk der Ewenken an, einer kleinen Minderheit in der großen Russischen Föderation. Nur ein Schlittenhund leistet den beiden Indigenen Gesellschaft, die ihren rauen Alltag ohne viele Worte verbringen.

Gelegentlich besucht der junge Chena das alte Paar und bringt mit dem Motorschlitten Holz und andere lebenswichtige Güter vorbei. Von dem Jugendfreund ihrer einzigen Tochter Aga erfahren sie, dass diese inzwischen in einer weit entfernten Diamantenmine arbeitet. Aga hat die Familie einst im Streit verlassen, was Nanouk ihr bis heute nicht verziehen hat.

Früher besaßen Nanouk und Sedna eine Rentierherde, doch nun leben sie vom Fischfang in Eislöchern und vom Fang kleinerer Tiere. Nachdem die Rentiere weitgehend verschwunden sind, machen sich nun aber auch die Fische rar, und die Schneehasen, die Nanouk manchmal im Eis oder in seinen Fallen findet, tragen verdächtige schwarze Flecken – eine Tierkrankheit. Ebenfalls einen schwarzen Fleck hat auch Sedna, allerdings am Bauch. Er ist ein Anzeichen einer schweren Krankheit, die sich auch mit einer Tinktur ihrer Mutter nicht heilen lässt.

Der bulgarische Regisseur Milko Lazarov nimmt sich viel Zeit, um den Alltag des alten Ehepaars zu beschreiben. Wenn die Kamera in langen, geradezu meditativen Einstellungen über die Eislandschaft schwenkt, die Nanouk und Sedna für sich allein haben, wird deutlich, dass ihre Lebensform im 21. Jahrhundert anachronistisch wirkt. Angesichts des unübersehbaren Klimawandels, der sich unter anderem in einem immer früher einsetzenden Frühling zeigt, hat sie wohl auch kaum noch eine Zukunft.

Man erfährt nicht, was zwischen Nanouk und seiner Tochter vorgefallen ist. Man kann sich aber denken, dass die junge Frau sich ein anderes Leben gewünscht hat als das alte ohne Strom, Fernseher, Internet, Komfort und Nachbarn. Einzig ein batteriebetriebenes Radio bringt gelegentlich etwas klassische Musik in die einsame Hütte. Die Langeweile vertreiben sich die Eheleute gern, indem sie sich immer wieder Mythen ihrer Ethnie erzählen oder ihre Träume. Ein Traum von Sedna über einen Jungen, der sich in einen Bären und dann in einen Mann verwandelt, um sie in seine sternenübersäte Höhle mitzunehmen, kommt zwei Mal vor: Erst erzählt Sedna ihn ihrem Mann, dann erzählt er ihn einem Lastwagenfahrer.

Als Sedna stirbt, lässt Nanouk Hund und Jurte zurück und bricht auf, um ihren letzten Wunsch zu erfüllen: Er will zu seiner Tochter Aga, um sich mit ihr auszusöhnen. Doch der Weg durch die schier end­lose Eiswüste ist lang und mühsam. Am Ende sehen wir in einer grandiosen Sequenz, wie sich Sednas Traum in dem 530 Meter tiefen Tagebauloch der Mine Udatschnaja gleichsam materialisiert. Hier lässt die Regie ihre nüchterne Erzählweise hinter sich und trägt mit pathetischer Musik etwas zu dick auf, wenn wir Zeuge werden, wie Nanouks seelische Verkrustung aufbricht. Eine Versöhnung zwischen Vater und Tochter scheint nun möglich zu sein, doch um welchen Preis!

Milko Lazarov ist insgesamt ein außergewöhnlicher Film gelungen, der den Zuschauerinnen und Zuschauern Geduld abverlangt, aber sie mit einer einfühlsamen Studie über den Konflikt von Tradition und Moderne belohnt.

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