Ausbruch aus einem rostgoldenen Käfig

In seinem ersten Langspielfilm erzählt Marcelo Martinessi, wie eine dank ihres Erbes gut situierte lesbische Frau gezwungen wird, ihr Leben neu zu organisieren. Eine einfühlsame Emanzipationsstudie aus Paraguay.

Seit drei Jahrzehnten sind Chela und Chiquita ein Paar. Gemeinsam leben sie in einer geräumigen Wohnung in einem gutbürgerlichen Viertel von Asunción, der Hauptstadt Paraguays. Während die extravertierte, aktive Chiquita den Alltag organisiert und soziale Kontakte pflegt, verlässt die melancholische Chela ungern das Haus und betätigt sich als Hobbymalerin. Weil der ererbte Wohlstand dem Ende zuneigt, sehen sich beide gezwungen, wertvolle Kristallgläser und alte Möbelstücke zu verkaufen. Als Chiquita wegen Überschuldung eine Haftstrafe antreten muss, ist Chela plötzlich auf sich allein gestellt. Erstmals seit vielen Jahren muss sie viele Dinge selbst erledigen und geht draußen gleichsam auf Entdeckungsreise.

Als die ältere Nachbarin Pituca Chela  bittet, sie zu einem Damentreffen zu fahren, erfüllt sie deren Bitte mit dem vom Vater geerbten Mercedes, obwohl sie keinen Führerschein hat. Der kleine Obolus, den sie dafür erhält, ist in der Haushaltskasse sehr willkommen. Dank Pituca melden sich weitere Frauen, die den Privattaxiservice auch gerne nutzen. Bei einer solchen Gelegenheit lernt Chela die junge, lebensfrohe Angy kennen, die in ihr ungeahnte Sehnsüchte weckt. Chela blüht auf und öffnet sich für ihre Umwelt. Dann wird Chiquita aus dem Gefängnis entlassen und kehrt mit der Nachricht zurück, dass sie einen Kaufinteressenten für das alte Auto gefunden hat.

„Die Erbinnen“ ist ein fast zärtliches Frauenporträt und zugleich ein filmischer Abgesang auf den Niedergang der bourgeoisen Oberschicht Paraguays. Das gemeinsame Leben von Chela und Chiquita scheint weitgehend in Ritualen erstarrt, steht aber vor einem elementaren Umbruch, da der gewohnte Lebensstil nicht länger finanzierbar ist.

Die Besuche Chelas im lauten, überfüllten Gefängnis bilden einen harten Kontrast zu der abgeschotteten Wohlstandexistenz der beiden Frauen. In der Haftanstalt begegnen ihr junge und alte, arme und reiche Delinquentinnen, sie bietet einen bunten Querschnitt durch die Gesellschaft des lateinamerikanischen Landes.

Die Begegnung mit der lebenslustigen Angy wirkt wie ein Katalysator, ja wie ein Jungbrunnen auf Chela. Wenn die stille Person Angys kranke Mutter zur Therapie chauffiert und danach mit Angy parliert, beginnt sie wieder zu lächeln und streckt sich aus der leicht gebeugten Haltung.

Männer tauchen in dem gesamten Film lediglich als Statisten auf. Der 1973 in Asunción geborene Regisseur konzentriert sich ganz auf die Frauenfiguren und dort wiederum vordergründig auf deren Privatleben. Die langen Jahre der Diktatur von Alfredo Stroessner, der von 1954 bis 1989 an der Macht war, werden nicht thematisiert, dabei müssen Chela und Chiquita diese dunklen Jahrzehnte miterlebt haben. Auch die jüngeren politischen Umbrüche und die Entwicklung zur Demokratie spielen keine Rolle. Zwischen den Zeilen vermittelt die sehenswerte Inszenierung aber gleichwohl viel vom aktuellen gesellschaftlichen Klima.

Bei der Uraufführung auf der Berlinale 2018 erhielt das melodramatisch geprägte Psychogramm gleich vier Auszeichnungen, darunter den mit einem Silbernen Bären verbundenen Alfred-Bauer-Preis und den Preis des internationalen Filmkritikerverbandes FIPRESCI. Zudem bekam Ana Brun für ihre Rolle als Chela einen Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin.

 

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