Auf den Spuren der „Nelkenrevolution“

25. April 1974 – Die Nelkenrevolution
Bibliothek des Widerstands, Band 15
LAIKA-Verlag, Hamburg Juli 2012,
344 Seiten, 24,90 Euro

mit den Filmen
Viva Portugal! BRD/Portugal, 1974/1975
Scenes from the Class Struggle in Portugal. USA/Portugal, 1977


Zwischen dem Krieg gegen die Befreiungsbewegungen in den portugiesischen Kolonien in Afrika und der Nelkenrevolution in Portugal 1974 gab es einen direkten Zusammenhang: Junge Offiziere der Kolonialarmee führten den Staatsstreich aus.

Die portugiesischen Soldaten mussten mindestens zwei Jahre ihrer Wehrpflicht in Übersee ableisten. Des Krieges müde, trafen sich an verschiedenen Orten Portugals und in den Kolonien Angehörige der Streitkräfte heimlich und planten den Aufstand. „Diese Bewusstseinsbildung innerhalb einer Kolonialarmee – einer Armee, die gegen andere Völker kämpfte, die nach Unabhängigkeit strebten – ist vielleicht das wichtigste Phänomen der portugiesischen Revolution“, heißt es in „Viva Portugal“. Der Verlag hat diesen Film des deutschen Dokumentarfilmers Malte Rauch aus mehreren unvollständigen Kopien neu zusammensetzen und restaurieren lassen. Rauch hatte Reportagen für das ZDF und den Hessischen Rundfunk genutzt.

Ein 29-jähriger Hauptmann erzählt in „Viva Portugal“, wie die Verschwörer der Bewegung der Streitkräfte sich darauf vorbereiteten, „eine echte Revolution zu machen“. Er hat in einem grausamen Kolonialkrieg mitgekämpft. Aber nun steht er auf der richtigen Seite, als Sohn des Volkes. Die Panzer der aufständischen Offiziere sind in Lissabon eingerückt, die älteste Diktatur Europas ist gestürzt. Vor den geöffneten Toren der Kerker, in denen die berüchtigte Geheimpolizei PIDE politische Gefangene gefoltert hatte, patrouillieren Soldaten mit roten Nelken in den Gewehrläufen.

„In diesem April scheint in Portugal alles möglich“, beschreibt „Viva Portugal“ die Situation. Und die Menschen handeln sofort, um das Mögliche Wirklichkeit werden zu lassen. Das zeigt auch das Buch, in dem portugiesische Historiker und Sozialwissenschaftler das damalige Geschehen beschreiben und aus ihrer heutigen Sicht analysieren. Am 25. April stürzen die Militärs das Regime. Am 28. April besetzen die Bewohner des Stadtviertels Boa Vista in Lissabon leer stehende Häuser. Bankangestellte beginnen am 29. April, den Kapitalfluss der Banken zu kontrollieren. Gewerkschaften besetzen das Arbeitsministerium, Landarbeiter und arbeitslose Tagelöhner Landgüter. Arbeiter enteignen Betriebe, produzieren in Eigenregie. Die Menschen, die in fast 50 Jahren Diktatur kaum den Mund aufmachen konnten, treten überall mit Aktionen für die Forderungen der Revolution ein: Ende des Kolonialkrieges, Unabhängigkeit der Kolonien, Agrarreform, Vollbeschäftigung, Lohnerhöhungen, Zugang zu Wohnraum, Recht auf Bildung.

In „Viva Portugal“ ist das revolutionäre Geschehen noch nah und lebendig, der Ausgang noch offen. Auch bei dem etwas später entstandenen „Scenes from the Class Struggle in Portugal“ von dem US-amerikanischen Filmemacher Robert Kramer ist die Anfangsphase der Nelkenrevolution noch präsent. Aber schnell gerät der Film zur Analyse des Scheiterns, das Kramer kommen sieht, auch wenn er es nicht ganz explizit ausspricht. Dafür sagt es im Film eine Portugiesin, die mit ihrem Lebensgefährten in einer Wohnung in einem besetzen Haus lebt: „Die Dinge werden jetzt wieder sehr ernst.“ Zu dem Zeitpunkt räumt die Polizei bereits Gebäude, die unter dem Slogan „Häuser ja, Slums nein!“ besetzt worden waren. Linke Militärs sind verhaftet, Soldatenräte verboten. Berufssoldaten mit Erfahrung aus den Kolonialkriegen werden nun eingesetzt, um den Willen portugiesischer Arbeiter zu brechen, heißt es im Film.

Die Revolution unterlag, eine bürgerliche Demokratie setzte sich durch, Portugal trat in die Europäische Gemeinschaft ein. Heute ist es in den Schlagzeilen wegen seiner Schulden und Protesten gegen die Sparpolitik. Was bleibt von der unvollendeten Revolution? „In jedem Gesicht Gleichheit“, lautete eine Zeile des Liedes, dessen Erklingen im Radio für die Bewegung der Streitkräfte das vereinbarte Signal zum bewaffneten Aufstand war. Die vielen Aufnahmen von Gesichtern in den Filmen über die Nelkenrevolution zeigen: Für einen historischen Augenblick lang ist diese Utopie wahr geworden. An solche Momente knüpft Geschichte in ihrer Entwicklung an, auch wenn sich das manchmal in langen Zeiträumen vollzieht. Dass Militärs einer Kolonialarmee eine Revolution eingeläutet haben, statt weiter in den Krieg zu ziehen, beweist außerdem, dass die Geschichte manchmal überraschende Lösungen bereithält.

Anja Ruf
 


 

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