Beeinträchtigt, nicht behindert

Ob aus einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eine Behinderung wird, hängt stark von der Umwelt und der sozialen Lage eines Menschen ab. Denn Werte und Normen einer Gesellschaft bestimmen, wann ein Verhalten oder ein körperliches Merkmal von der „Normalität“ abweicht. Auch die Erklärungen, wie eine solche Abweichung zu Stande kommt, unterscheiden sich von Kultur zu Kultur und haben Folgen für den Umgang mit behinderten Menschen.
Martha‘s Vineyard ist eine Insel vor der Küste des US-Bundesstaats Massachusetts. Von Beginn des 19. bis Mitte des 20. Jahrhundert lebten dort überdurchschnittlich viele gehörlose Menschen – Gehörlosigkeit wurde durch die Eheschließung von Verwandten über die Jahre weitervererbt. Die Bewohner der Insel entwickelten deshalb sehr früh eine eigene Gebärdensprache, die von Gehörlosen und Hörenden gleichermaßen genutzt wurde. Nora Groce, die eine ethno-historische Studie über Gehörlosigkeit auf Martha‘s Vineyard gemacht hat, berichtet, dass gehörlose Menschen vollkommen in die Gemeinschaft integriert waren. Manchmal unterhielten sich Hörende sogar mittels Gebärdensprache, wenn kein Gehörloser dabei war. Waren die gehörlosen Menschen auf Martha‘s Vineyard „behindert“?
 

Autorin

Kathrin Schmidt

ist Diplom-Rehabilitationspädagogin. Seit 2009 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund sowie als Mitarbeiterin der Organisation Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit (bezev e.V.) tätig.

Wenn man über Behinderung im interkulturellen Kontext spricht, stellt sich stets das Problem einer Definition. Mit der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) hat die Weltgesundheitsorganisation 2001 versucht, eine einheitliche Sprache sowie einen universellen konzeptionellen Rahmen für Funktionsfähigkeit und Behinderung zu schaffen. Mit Hilfe der ICF sollen zum einen auf individueller Ebene Körperfunktionen und –strukturen, also die physiologischen und psychologischen Funktionen von Körpersystemen sowie die anatomischen Teile des Körpers wie Gliedmaßen und Organe erfasst werden. Zum anderen kann anhand der ICF kategorisiert werden, inwieweit ein Mensch mit Beeinträchtigungen in der Lage ist, an allen ihm wichtigen Lebensbereichen teilzuhaben.

Zudem werden in der ICF Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren) aufgelistet, die auf ein bestimmtes Gesundheitsproblem und damit auf bestimmte Aktivitäten und eine Teilhabe an der Gesellschaft Einfluss haben. Umweltfaktoren beschreiben die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, die als Barriere oder Unterstützung für eine Person mit einem Gesundheitsproblem wirken kann. Dazu zählen etwa Kommunikation unterstützende Technologien, Vermögen, Familienstrukturen oder gesellschaftliche Einstellungen. Mit personenbezogenen Faktoren werden Geschlecht, Alter oder soziale Herkunft berücksichtigt.

Anknüpfend an das Beispiel von Martha‘s Vineyard ist nach der ICF die Schädigung bezogen auf die Hörfunktion der gehörlosen Menschen voll ausgeprägt. Zuhören ist für gehörlose Bewohner von Martha‘s Vineyard nicht möglich. Würden sie in einer Umwelt leben, in der niemand mit Gebärden kommuniziert, wären sie in ihrer Teilhabe eingeschränkt – also behindert. Da jedoch die gehörlosen (und auch die hörenden) Bewohner der Insel in der Lage sind, mittels Gebärdensprache zu kommunizieren, entsteht aus der Gehörlosigkeit keine Behinderung. Die Gehörlosen können an allen gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen, einen Beruf ausüben oder ein politisches Amt übernehmen wie andere Inselbewohner.

Behinderung ist kein universelles oder naturgegebenes Phänomen. Ein Merkmal, das in der ICF als Schädigung oder Funktionseinschränkung klassifiziert wird, muss nicht zu einer Behinderung führen. Die Auswirkungen einer Beeinträchtigung sind in hohem Maße von der Umwelt und der sozialen Lage einer Person abhängig. Im Hinblick auf kulturelle Unterschiede im Verständnis von Behinderung spielen die in einer Gesellschaft vorherrschenden Werte und Normen sowie Weltanschauungen und Strukturen eine entscheidende Rolle: Welche Eigenschaften gelten in einer Gesellschaft als erwünscht, welche Fähigkeiten als wichtig? Welche Merkmale muss ein Mensch mitbringen, um als vollwertiges Mitglied gesehen und behandelt zu werden? Wie ist das Verständnis von „Normalität“ und was wird als Ursache einer Abweichung davon gesehen? Eng verknüpft damit sind die Erklärungen für Gesundheit und Krankheit sowie die Möglichkeiten für Menschen, die behandelt oder unterstützt werden müssen.

Bei den Yupno in Papua-Neuguinea gilt ein Mensch, so beschreibt es die Ethnologin Verena Keck, erst dann als vollständige Person, wenn er in der Lage ist zu laufen, zu reden und zuzuhören, etwas zu tragen, kleinere Nachrichten zu überbringen und soziale Beziehungen zu unterhalten. Dies wird als Zeichen dafür verstanden, dass alle Körperdimensionen ausgebildet sind, aus welchen nach Annahme der Yupno ein Mensch besteht. Fehlt eine davon, erreicht er den Status eines vollständigen Menschen nicht. Vor allem der Erwerb von Wissen durch Zuhören ist wichtig, da ein Yupno nur auf diese Weise Ansehen gewinnen und einflussreich werden kann. Eine Beeinträchtigung beim Hören ist – im Gegensatz zu den Gehörlosen auf Martha‘s Vineyard – bei den Yupno eine schwere Form der Behinderung.

Die Reaktionen auf eine Abweichung von einer kulturspezifischen Normalität sind unterschiedlich. In einer vergleichenden Analyse ethnologischer Studien haben Dieter Neubert und Günther Cloerkes die Spannbreite möglicher Reaktionen aufgelistet. Sie reichen von aktiver oder passiver Tötung über Diskriminierung oder Gleichgültigkeit bis hin zur Vergabe von Sonderrollen wie Seher oder Heiler. Welche Reaktionen auf eine bestimmte Form der Abweichung folgen, ist in hohem Maße abhängig davon, wie diese erklärt und welche Ursache dafür angenommen wird. Annahmen über die Entstehung einer Beeinträchtigung sind oft eng verknüpft mit Annahmen über die Entstehung von Krankheit.

In Bangladesch werden körperliche oder geistige Beeinträchtigungen – vor allem dann, wenn sie von Geburt an bestehen – traditionell mitunter mit einem sündhaften Fehlverhalten der Eltern oder übernatürlichen Kräften wie Geister oder dem bösen Blick erklärt, der in vielen Ländern als Element des Volksglaubens zu finden ist. Doch auch Kulturen, die traditionell eher andere Erklärungsmuster favorisieren oder favorisiert haben, führen Krankheiten oder Beeinträchtigungen immer häufiger auf physiologische Schädigungen wie Krankheitserreger oder genetische Ursachen zurück – oft bestehen traditionelle Erklärungen in unterschiedlichem Maße neben den biologisch-physiologischen Erklärungen fort.

Wird das Fehlverhalten der Mutter als Ursache einer Beeinträchtigung des Kindes angesehen, so ist es für die Familie häufig schwer, mit der Behinderung des Kindes offen umzugehen. Je nach Umfeld kann es vorkommen, dass Kinder (vor allem vor Fremden) versteckt oder verleugnet oder gar ausgesetzt werden – im günstigsten Falle vor einer Einrichtung, in der das Kind dann weiter versorgt und begleitet werden kann. In solchen Fällen sind die Eltern meist auch überfordert mit der Unterstützung und Betreuung, die das Kind braucht, oder sie fühlen sich hilflos angesichts fehlender Zukunftsperspektiven.

Auch für die Wahl von Behandlungs- und Therapiemethoden ist die Zuschreibung der Ursache maßgeblich. Wird angenommen, dass ein Mensch mit einem Fluch belegt wurde, dann wird häufig zunächst ein Heiler zurate gezogen, bevor eine medizinische Behandlung oder Therapie begonnen wird. Nicht selten ist aus einer religiösen Perspektive heraus Behinderung mit Leid und Mitleid, mit einer Vorstellung von Strafe und Vergebung, aber auch mit der Idee der „Heiligkeit des Lebens“ und der Barmherzigkeit verknüpft. Wird eine Beeinträchtigung des Kindes als gottgewollt gesehen, etwa als eine besondere Prüfung für die Eltern oder als Strafe für ein bestimmtes Verhalten enger Verwandter, wird möglicherweise jegliche Form der Therapie oder Rehabilitation abgelehnt. Gerade im christlichen Glauben kann Leiden als Form der Prüfung der eigenen Glaubensfestigkeit, als ein Weg zum eigenen Heil verstanden werden. Auch die Lebensrealität von Menschen mit Behinderung war und ist hierdurch vielfach geprägt. Beispielhaft dafür stehen Betreuungs- und Unterstützungsangebote in Form karitativer Aktivitäten und Einrichtungen, die im Sinne der christlichen Nächstenliebe geführt werden. Sie sind nicht zuletzt deshalb in die Kritik geraten, weil Menschen mit Behinderung eher als passive Empfänger denn als handelnde Individuen wahrgenommen wurden. Hier schließt der menschenrechtsbasierte Ansatz im Hinblick auf Behinderung an.

Das Verständnis von Behinderung und die Lebens- und Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit bestimmten Merkmalen variieren nicht nur zwischen verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb von Kulturen. Eine Rolle spielen unter anderem das Alter und das Geschlecht der jeweiligen Person und der Zeitpunkt, an dem die Behinderung eingetreten ist. Auch die soziale Stellung und die Sozialstruktur der Familie sowie ihre finanzielle Situation wirken sich stark aus. Beides hat großen Einfluss darauf, wie eine Person mit einer Beeinträchtigung unterstützt werden kann und welche Bedeutung die Behinderung eines Familienmitglieds für die gesamte Familie hat. Dies wird besonders deutlich, wenn es darum geht, finanzielle oder personelle Ressourcen für die Behandlung, Unterstützung oder Pflege eines Familienmitglieds bereitzustellen.

Eng verbunden mit der Auswirkung einer Beeinträchtigung oder Abweichung sind Rollenerwartungen in einer Gesellschaft und wie sie erfüllt werden können. Ein Beispiel ist die Unfruchtbarkeit einer Frau. Unfruchtbarkeit wird in der ICF als Schädigung genannt und zieht in vielen Kulturen sehr unterschiedliche gesellschaftliche Reaktionen nach sich. In einer Kultur, in der von einer Frau erwartet wird, die Rolle der Ehefrau und Mutter zu erfüllen, hat die Unfruchtbarkeit vollkommen andere Auswirkungen auf die Lebenssituation als in Kulturen, in denen einer Frau zahlreiche andere gesellschaftlich akzeptierte Rollen offen stehen. Während die Unfruchtbarkeit einer Frau in „westlich“ geprägten Kulturen als Schicksalsschlag oder bewusste Entscheidung gegen leibliche Kinder behandelt wird, wirkt Kinderlosigkeit in anderen Kulturen als Stigma. Marcia C. Inhorn und Aditya Bharadwaj berichten, dass Frauen, die keine Kinder bekommen, in Indien und Ägypten mitunter aus der Gesellschaft ausgeschlossen und aufgrund ihrer Kinderlosigkeit öffentlich gedemütigt werden. Denn sie können die „normale“ Rolle für eine Frau nicht erfüllen.

Obwohl die ICF den Anspruch hat, eine international einheitliche Klassifikation bereit zu stellen, ist sie von einem „westlich“ orientierten Verständnis von Gesundheit und Krankheit geprägt. Soziale Beeinträchtigungen, die als schlechtes Omen gelten – wie außereheliche Geburt oder dass man mit den Füßen voran geboren wird –, führen in manchen Kulturen zu verminderten Teilhabechancen. Mit der ICF können sie jedoch nicht erfasst werden, da die sich ausschließlich auf biologisch-physiologische Kategorien stützt. Auch wenn auf internationaler Ebene eine „gemeinsame Sprache“ sinnvoll erscheint, sollte doch bewusst sein, dass die Innenperspektive einer Kultur auf Abweichung und Normalität, auf Krankheit und Gesundheit sowie auf Behinderung und Teilhabe von unserem „westlichen“ Verständnis stark abweichen kann. Um dem Phänomen der Behinderung in anderen Kulturen auf die Spur zu kommen, sollten wir uns stets unserer eigenen kulturellen Prägung bewusst sein.

Kulturen sind einem ständigen Austausch und Wandel unterworfen. Dies trifft auch auf das Verständnis von Behinderung sowie den Umgang mit Abweichung und Beeinträchtigung zu. Die Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung verändern sich in Deutschland und weltweit. In Regionen wie dem ländlichen Gaibandha in Bangladesch oder dem Finisterre-Gebirge in Papua-Neuguinea, in denen bis vor wenigen Jahren der traditionelle Heiler für die Behandlung von Krankheiten und Beeinträchtigungen zuständig war, sind vermehrt Gesundheitszentren und Krankenhäuser zu finden, die „westliche“ naturwissenschaftliche Erklärungsmuster und Behandlungsmöglichkeiten mitbringen. Schulbildung, die zunehmend den Körper und seine Funktionen erklärt, beeinflusst darüberhinaus traditionelle Annahmen über Körper und Geist, Gesundheit und Krankheit.

Nicht zuletzt die seit Mai 2008 gültige Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist ein Zeichen für den Wandel im Verständnis von Behinderung. Sie kennzeichnet einen Prozess, der über die Entwicklung des Verständnisses von Behinderung als soziales Konstrukt hinausgeht und eine Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung erreichen soll. Theresia Degener, Professorin für Recht und Disability Studies an der EFH Bochum, beschreibt diesen Vorgang als „einen dynamischen Veränderungsprozess hin zu mehr Menschenrechten“. Dabei geht es nicht darum, in allen Ländern ein einheitliches Ergebnis zu schaffen, sondern darum, nationale Unterschiede zu berücksichtigen. Es ist daher zentral, kulturelle Aspekte im Verständnis von und im Umgang mit Behinderung zu berücksichtigen. Ohne Kenntnisse darüber werden Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderung in alle Lebensbereiche ins Leere laufen.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2011: Behinderung: Das Recht auf Teilhabe
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