„Als ich blind wurde, ist mein Mann ausgezogen“

In vielen Ländern sind deutlich mehr Frauen behindert als Männer. Der Grund: Ihre Rechte werden missachtet, ihre Gesundheitsversorgung ist schlechter, Krankheiten werden öfter als bei Männern nicht behandelt und verursachen Behinderungen. Behinderte Frauen gelten oft als Menschen zweiter Klasse. Das muss sich ändern, denn die Entwicklungszusammenarbeit kann auf ihre Fähigkeiten nicht verzichten.

Als Naomi Munataya aus Malawi meiner Mitarbeiterin erzählte, wie sie vor einigen Jahren erblindete, schien es naheliegend zu fragen, wie denn ihr Mann mit dieser Situation zurecht gekommen sei. Ohne Bitterkeit in der Stimme antwortete die 60-Jährige: „Meine Schwester hat sich um mich gekümmert. Mein Mann ist damals ausgezogen.“ Sie sagte das ganz emotionslos. Als sei es völlig normal, dass ein Mann seine Frau verlässt, wenn er diese für „nicht mehr einsatzfähig“ hält. Als Naomi erfolgreich am Grauen Star operiert worden war und wieder sehen konnte, kehrte ihr Mann zu ihr zurück.

Autor

Dr. Rainer Brockhaus

ist Direktor der Christoffel-Blindenmission Deutschland.

Solche Geschichten höre ich immer wieder aus unseren Projekten. Wegen einer Behinderung verlassen zu werden, ist für Frauen in Afrika Alltag. Oft sucht sich der Mann nur deshalb eine neue Frau, weil eines der Kinder behindert zur Welt kommt oder aufgrund einer Krankheit behindert wird. Keiner hält das für unmoralisch oder verwerflich.

Grundsätzlich sind Frauen deutlich häufiger von einer Behinderung betroffen als Männer. Da Frauen in Entwicklungsländern oft nicht lesen und schreiben können, erhalten sie nur unzureichende Informationen über Gesundheitsdienste – und damit auch keinen Zugang zu diesen. Der Mangel an Gesundheitsaufklärung, zum Beispiel über die Gefahren von Infektionen, kann eine akute Krankheit zur Folge haben. Wird diese nicht behandelt, entwickelt sich häufig eine chronische Erkrankung, die wiederum eine Behinderung zur Folge haben kann. Hinzu kommt, dass insbesondere behinderte Frauen selten an Rehabilitationsprogrammen teilnehmen und andere Hilfsangebote in Anspruch nehmen können.

Eine Behinderung zu haben, trifft Frauen in Entwicklungsländern doppelt hart. Dort, wo Frauenrechte und Emanzipation oft ohnehin noch in den Kinderschuhen stecken, zementiert eine Behinderung das Rollenverständnis, das die Gesellschaft Frauen zuschreibt: Menschen zweiter Klasse zu sein, sich unterordnen zu müssen, ein Leben lang unselbstständig und abhängig zu sein. Dies macht es Mädchen und Frauen mit einer Behinderung noch schwerer, einen Beruf zu erlernen und selbstbestimmt zu leben oder eine Arbeit zu finden. Und falls sie es doch schaffen, werden sie schlechter bezahlt.

Der Grundstein für diese Diskriminierung wird dabei meist schon in der Kindheit und Jugend der behinderten Frauen gelegt: Mädchen mit Behinderungen besuchen seltener die Schule als Jungen und haben dadurch von vornherein schlechtere Chancen. In der Folge leben diese Frauen statistisch gesehen häufiger in Armut als Männer. Auch deshalb, weil ihnen der traditionelle Weg der Existenzsicherung durch eine Heirat ebenfalls versperrt ist. „Wir machen uns große Sorgen um unsere blinde Tochter, so wird sie niemals einen Mann finden“ – so lautet oft die größte Sorge, die etwa Eltern in Indien umtreibt. Natürlich gibt es auch zahlreiche Frauen mit Behinderung, die in einer Partnerschaft leben. Doch Statistiken zeigen, dass verheiratete Frauen mit Behinderung stärker von häuslicher und sexueller Gewalt bedroht sind als solche ohne Behinderung. Selbst die Ehe bietet also keine Sicherheit.

Frauen bringen die Entwicklungsarbeit voran

Die Situation von Frauen mit Behinderungen zeigt, dass das Thema „Gender und Behinderung“ stärker in den Fokus der Entwicklungszusammenarbeit rücken muss. Denn meistens sind es Frauen, die in der Dorfgemeinschaft die Entwicklungsarbeit voranbringen. Und dies sogar in Ländern, die eine solche Rolle der Frau nicht unbedingt vermuten lassen, zum Beispiel islamisch geprägten Ländern. So habe ich in den palästinensischen Gebieten und in Ägypten viele Selbsthilfegruppen kennengelernt, die nicht nur von behinderten Frauen ins Leben gerufen, sondern von diesen auch mit Nachdruck und großem Erfolg betrieben wurden.

Die moderne Entwicklungszusammenarbeit kann es sich daher nicht leisten, auf das Potenzial und die Kraft behinderter Frauen zu verzichten. Im Gegenteil, wir müssen sie besonders stärken, um durch sie noch viel mehr Menschen mit Behinderungen in den ärmsten Regionen der Erde zu erreichen. Denn nur durch diese Frauen schaffen wir einen Bewusstseinswandel aus dem Inneren des Landes heraus, der nachhaltig wirken kann. 

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erschienen in Ausgabe 10 / 2012: Spuren des Terrors
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