Befragung im Boxring

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Theaterprojekt über Flucht
In den Nachrichten sehen wir die Bilder von verzweifelten Flüchtlingen im Mittelmeer. Aber was erleben die Menschen, wenn sie ihre Heimat verlassen? Ein Theaterstück wirft den Zuschauer mitten ins Geschehen.

Rajana ist von Somalia nach Deutschland geflohen. Sie spricht über einen Kopfhörer zu mir: „Ich suche einen Menschen, dem ich vertrauen kann. Hilf mir, jemanden zu finden“, sagt sie. In Düsseldorf-Oberbilk, im sogenannten „Maghreb-Viertel“ der Stadt, am Rande eines Spielplatzes fällt mein Blick auf eine Frau mit langem Gewand, Kopftuch und strahlendem Lächeln, die mich zuvor von ihrem Reisebüro in eine Wohnzimmer-Moschee geführt hat. Soll ich sie um Hilfe für Rajana fragen? Oder soll ich mich an den Polizisten neben ihr wenden? Ich besuche die Theateraufführung „Dorthin wo Milch und Honig fließen“ – besser gesagt: Ich nehme daran teil, denn es ist eine interaktive Inszenierung zu „Fluchtspuren“.

„Wir arbeiten erstmals mit einem solchen künstlerischen Format“, erklärt Thomas Klein von Engagement Global, dem BMZ-Service für Entwicklungsinitiativen, der dieses Projekt zusammen mit dem Eine-Welt-Forum Düsseldorf, dem Eine Welt-Netz NRW und der Exile-Kulturkoordination auf die Beine gestellt hat. Die Inszenierung haben die Theaterregisseurinnen Charlott Dahmen und Karin Frommhagen übernommen. Beide entwickeln seit Jahren innovative künstlerische Formate für gesellschaftspolitische Themen wie Flucht und Migration.

„Dorthin wo Milch und Honig fließen“ beginnt über den Dächern von Düsseldorf – auf dem Parkdeck am Hauptbahnhof. Die Veranstalter empfehlen festes Schuhwerk. Wir  werden auf eine etwa zweistündige „Fußreise“ vorbereitet, geführt von der Stimme eines Flüchtlings, der seine Lebensgeschichte erzählt und uns zu verschiedenen Spielorten lotst. Wir erhalten einen Audioguide, eine Skizze ohne Straßennamen und eine Handynummer für den Notfall. „Hören Sie auf Rajana! Dann finden Sie den Weg“, versichert eine Theatermitarbeiterin.Zuhören hilft nicht nur bei der Orientierung, sondern lässt uns mitfühlen mit den Flüchtlingen. Rajana erzählt, wie ihre Eltern bei einem Raketenangriff in Mogadischu getötet wurden, wie sie und zwei überlebende Schwestern bei einer anderen Familie aufwuchsen – als Arbeitssklavinnen gehalten, geschlagen und brutal vergewaltigt.

Erst am Ende der Reise löst sich die Anspannung

Mit 20 Jahren flüchtete sie und erreichte nach sieben Jahren Deutschland. Ihre Lebensgeschichte fesselt mich so, dass ich bei jeder Routenbeschreibung stehen bleibe, die Pausentaste drücke  und mich erst wieder in der deutschen Gegenwart orientieren muss, um den richtigen Weg einzuschlagen. Der führt mich in ein Reisebüro und eine Wohnzimmer-Moschee, auf einen Schulhof und vor eine Gefängnismauer, ich finde mich in einer Flüchtlingsberatung und einem Boxclub wieder, am Ende geht es in das Café Salam. An all diesen Spielorten wird Rajanas Geschichte konkret und nachvollziehbar.

Auch die anderen „Theaterläufer“ folgen den Spuren von Flüchtlingen. Insgesamt sind es vier verschiedene Routen: die von Rajana aus Somalia, Burhan aus Afghanistan, Sami aus dem Irak und Halima aus Syrien. Ihre Namen wurden geändert, aber die Geschichten sind authentisch – ausgewählt aus vielen Lebenswegen, die in Interviews mit Flüchtlingen recherchiert wurden. Die Wege kreuzen sich an drei Orten. In der Flüchtlingsberatungsstelle STAY, der auch die Eintrittsgelder gespendet werden, fragen wir nach den Asylmöglichkeiten. Rajanas Beschneidung und Vergewaltigungen sind kein Asylgrund, aber wegen des Krieges in Somalia hätten sie, ihr Mann und ihre kleine Tochter gute Chancen auf Anerkennung, sagt eine Mitarbeiterin.

Doch die zu erhalten, ist gar nicht so einfach, wie sich beim nächsten gemeinsamen Stopp zeigt, dem „Box-Papst“ – einer Kneipe mit Boxring im Hinterhof. Hier inszenieren vier Schauspieler in wechselnden Rollen die Befragungen im Ausländeramt als erbitterten Schlagabtausch „Frage. Doppelpunkt. Wie heißen Sie? Antwort. Doppelpunkt.“ – „Warum sind Sie verhaftet worden?“ –  „Warum sind Sie nach Deutschland eingereist?“ Im Stakkato folgt eine Frage der nächsten – wie Schläge in die Magengrube.

Erst am Ende der Fußreise im Café Salam beim marokkanischen Minztee und Gespräch mit den Schauspielern und mit Stadtteilbewohnern löst sich die Anspannung. An der Theke sehe ich den Polizisten vom Spielplatz – Zufall? Nein, es ist Dirk Sauerborn, Kontaktbeamter für interkulturelle Angelegenheiten.

Weitere Aufführungen des Theaterstücks in Düsseldorf gibt es am 9. und 12. September jeweils um 12.00 Uhr und am 16. und 17. September jeweils um 17.30 Uhr. www.engagement-global.de/theater

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erschienen in Ausgabe 8 / 2015: Demokratie: Die bessere Wahl
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