Krankenschwester verzweifelt gesucht

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Gesundheitspersonal
Die Industriestaaten werben in ärmeren Ländern um Ärzte und Pflegekräfte. Dabei hätten die in ihrer Heimat genug zu tun. Manchmal wird das sogar als Entwicklungshilfe verkauft.

Ausgebildetes Gesundheitspersonal ist weltweit knapp. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO fehlen allein in den 100 als schlecht versorgt klassifizierten Ländern mehr als sieben Millionen Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger. Und das Problem wächst schnell: In zwanzig Jahren werden in diesen Ländern schon 13 Millionen Fachkräfte fehlen.

Trotzdem rekrutieren viele Länder des Nordens Gesundheitsfachkräfte aus dem Süden. Auch die deutsche Bundesregierung wirbt seit 2013 unter anderem in Vietnam, Tunesien, China und auf den Philippinen um Pflegekräfte. Damit folgt sie eher spät einem weit verbreiteten Trend: Die Gesundheitssysteme der USA, Englands und Australiens sind schon seit den 1970er Jahren auf zuwandernde Ärzte, Ärztinnen und Pfleger angewiesen. Einige Länder des Südens haben sich bereitwillig darauf eingestellt. So bilden die Philippinen seit Jahrzehnten weit über ihren eigenen Bedarf Fachkräfte aus, um die Nachfrage auf dem globalisierten Arbeitsmarkt zu bedienen. Die philippinische Regierung tut das mit Blick auf die Rücküberweisungen der Migranten an ihre Familien: Die liegen laut Weltbank bei jährlich 20 Milliarden US-Dollar.

Diese Praxis ist also weit älter, als die Debatte in Deutschland vermuten lässt. Großbritannien hat in den 1990er Jahren begonnen, in großer Zahl Ärzte, Ärztinnen sowie Pflegefachkräfte aus dem außereuropäischen Ausland abzuwerben. 2001 und 2002 wurden jeweils rund 15.000 Gesundheitsfachkräfte auf die Insel geholt. Gleichzeitig begann eine öffentliche Debatte um die ruinösen Folgen dieser Praxis für die Gesundheitssysteme der Hauptherkunftsländer im südlichen Afrika und in der Karibik. Sie gipfelte in dem Vorwurf, über die Ausbildungskosten subventioniere Afrika das britische Gesundheitssystem mit mehr Geld, als es aus London an gesundheitsbezogener Entwicklungshilfe erhalte.

Weniger Ärzte, kürzeres Leben

Der Zusammenhang zwischen der Dichte an Gesundheitsfachkräften und Sterblichkeitsraten in einem Land ist empirisch gesichert. Wissenschaftler aus Harvard haben berechnet, dass in unterversorgten Ländern ein zusätzlicher Arzt auf tausend Einwohner die Kindersterblichkeit langfristig um 45 Prozent senken kann. Bekannt ist auch, dass es vor allem die Pflegekräfte sind und weniger die Ärzte, die in den Ländern des Südens den größten Einfluss auf die Gesundheit der ärmeren Bevölkerung haben. Einer Studie aus Brasilien zufolge hat die Zahl der Krankenpfleger einen um 60 Prozent höheren Einfluss auf die Säuglingssterblichkeit als die der Ärzte. In den ländlichen Regionen in Ländern des Südens wird der Gesundheitsbetrieb auf dem Dorf oft eher von Pflegerinnen als von Ärzten aufrechterhalten.

Großbritannien hat daraus Konsequenzen gezogen. Das Königreich war das erste Land, in dem ein Verhaltenskodex in Kraft trat, der aus ethischen Erwägungen heraus die Rekrutierung aus den meisten außereuropäischen Ländern untersagt. Der Kodex trat 2001 in Kraft und wurde 2004 erweitert. In der Folge sind die Zahlen der einwandernden Fachkräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) gesunken. Allerdings stieg im selben Zeitraum und vor allem seit Beginn der Finanzkrise die Zuwanderung aus EU-Ländern stark an. Seit 2008 übertreffen die Zahlen der zuwandernden Gesundheitsfachkräfte aus EU-Ländern erstmals diejenigen aus allen anderen Staaten, Tendenz steigend.

Seit knapp zehn Jahren wird auch in der internationalen Gesundheitspolitik stärker über die anschwellenden Migrationsströme von Gesundheitsfachkräften diskutiert. Die Weltgesundheitsorganisation rückte das Thema 2006 in das Zentrum ihres Weltgesundheitsberichtes und löste damit eine intensive Debatte aus. 2010 einigte sich die Weltgemeinschaft schließlich auf den WHO-Verhaltenskodex zur internationalen Rekrutierung von Gesundheitspersonal. Er fordert die Staaten in erster Linie dazu auf, ausreichend einheimisches Gesundheitspersonal auszubilden und zu beschäftigen. Nur für den Fall, dass damit der Bedarf nicht gedeckt werden kann, sieht der Kodex Verfahren zur behutsamen Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland vor.

In Deutschland ist die Abwerbung von Pflegepersonal allerdings erst seit Inkrafttreten des Kodex richtig in Fahrt gekommen. Bundesregierung, Arbeitgeberverbände und private Agenturen werben zunehmend Pflegekräfte aus dem Ausland ab. Aus EU-Ländern im Osten – vor allem aus der Tschechischen Republik, Polen und Rumänien – und im Süden – vor allem aus Griechenland, Italien, Portugal und Spanien – wird entweder direkt über die Bundesagentur für Arbeit, über das Netzwerk der europäischen Arbeitsagenturen EURES oder über Job-Messen rekrutiert. Zudem bestehen seit Anfang 2013 Vermittlungsabsprachen für Pflegefachkräfte mit einigen Staaten außerhalb der EU, darunter Tunesien, die Philippinen, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Der Arbeitgeberverband Pflege wirbt in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit Pflegekräfte aus China ab.

Auch die Entwicklungszusammenarbeit ist beteiligt: Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) wirbt im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums um Pflegekräfte aus Vietnam und von den Philippinen. So werden in Vietnam fertig ausgebildete und hoch qualifizierte Krankenpfleger und -pflegerinnen mit Bachelor-Abschluss angeworben, die dann hier eine zweijährige „Fortbildung“ in der Altenpflege durchlaufen.

Allerdings verbietet die Bundesregierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den WHO-Verhaltenskodex die Abwerbung aus den 57 Ländern, die laut WHO schon 2006 unter einem krisenhaften Mangel an Gesundheitsfachkräften litten (eine Aktualisierung der Liste der Bundesregierung ist im Gespräch, aber noch nicht verwirklicht). Das kann eine deutsche Agentur oder einen Arbeitgeber, der Personal aus Kenia oder Indien abwirbt, schnell bis zu 30.000 Euro Strafe kosten. Nicht nachvollziehbar ist, warum das nur für Pflegekräfte, nicht aber für Ärzte und Ärztinnen gilt.

Ein Gewinn für fast alle

Die Bundesregierung ist bemüht, die Abwerbung von Gesundheitsfachkräften auch für die Migranten und Migrantinnen sowie für die Herkunftsländer nutzbringend zu gestalten. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom „Triple-Win-Konzept“. Allerdings wird dabei nur an die Regierungen der Herkunftsländer als Gewinner gedacht, die wie in den Philippinen oder in Vietnam den zu erwartenden Rücküberweisungen eine höhere Priorität einräumen als der Gesundheitsversorgung der eigenen ländlichen Bevölkerung. Die ist der Verlierer im Triple-Win-Modell der Bundesregierung.

Denn auch in Ländern wie den Philippinen oder Vietnam gibt es vor allem in ländlichen Regionen zu wenig Gesundheitspersonal. Vietnam liegt sogar unter dem WHO-Schwellenwert für eine krisenhafte Unterversorgung von 2,28 Gesundheitsfachkräften auf tausend Einwohner. Es erscheint dennoch nicht auf der WHO-Ausschlussliste, weil dort nur Länder stehen, die krisenhaft unterversorgt sind und in denen gleichzeitig weniger als vier Fünftel der Geburten medizinisch betreut sind (siehe Grafik). Vietnam gehört zur jenen rund 20 Ländern, die zwar unterversorgt sind, den Schwellenwert für medizinisch betreute Geburten aber dennoch überschreiten.

Deutschland wirbt im Vergleich mit anderen Industrieländern noch wenig Gesundheitspersonal im Ausland an. Die derzeitigen Programme der Regierung sind Pilotprojekte mit wenigen tausend Personen. Berlin will zunächst Erfahrungen mit einer Öffnung der Grenzen für diese Berufsgruppen sammeln. Das 2013 mit den Philippinen getroffene bilaterale Abkommen ist vorbildlich bei den Arbeitnehmerrechten und der tariflichen Bezahlung der Migranten. Im zuständigen Bundeswirtschaftsministerium spricht man gerne von den „Anwerbeprogrammen mit Goldrand“. Doch der Bundesregierung ist die hoch subventionierte Form grenzüberschreitender Rekrutierung durch die GIZ auf Dauer zu teuer; mittelfristig sollen private Agenturen die Aufgabe übernehmen.

"Brain Waste" in Deutschland

Dramatisch ist die Entwicklung bei der ungesteuerten Migration aus osteuropäischen EU-Staaten. So hat Rumänien seit 1990 rund 21.000 Ärzte verloren, davon alleine 14.000 seit dem EU-Beitritt 2007. Die Zahl der in Rumänien tätigen Ärzte sank in den vergangenen fünf Jahren von 21.400 auf 14.100. Bulgarien verliert derzeit komplette Jahrgänge von jungen Medizinern, die nach ihrer Ausbildung ins Ausland gehen. Besorgniserregend hoch sind auch die Zahlen von osteuropäischen Pflegerinnen in der häuslichen Pflege in Deutschland. Je nach Quelle liegen die Schätzungen zwischen 100.000 und 300.000 Pflegekräften aus Osteuropa, die derzeit in deutschen Privathaushalten tätig sind. Diese Frauen arbeiten zumeist im Rahmen der EU-Entsenderichtlinie zu sehr niedrigen Gehältern und in rechtlichen Grauzonen. Die Gesundheitssysteme in Polen, Rumänien und Bulgarien stehen angesichts dieses Exodus vor großen Problemen.

Als Hürde für die deutschen Anwerbeambitionen haben sich mittlerweile die unterschiedlichen Ausbildungswege in der Krankenpflege herausgestellt. Nur in Deutschland und Österreich durchlaufen angehende Pflegekräfte eine nicht akademische Berufsausbildung. In den meisten anderen Ländern ist die Krankenpflege ein Hochschulstudium mit Bachelor- beziehungsweise Masterabschluss. Die Pflegekräfte in den Krankenhäusern dort haben meistens viel mehr Kompetenzen als in Deutschland. So wird der Frust der spanischen Pfleger und Pflegerinnen verständlich, die in Deutschland verblüfft feststellen, dass sie hier Arbeiten erledigen müssen, die in Spanien Pflegehelfer tun. Nach Deutschland gehen, um „Hintern abzuwischen“, schimpfte jüngst Máximo González Jurado, der Präsident des spanischen Pflegerates. Er klagte, Spanien subventioniere das deutsche Gesundheitssystem durch überqualifizierte Migranten und den damit verbundenen „brain waste“.

Der Mangel ist hausgemacht

Die Notwendigkeit, mehr ausländisches Personal anzuwerben, wird gewöhnlich mit dem bevorstehenden demografischen Wandel und der Alterung der deutschen Gesellschaft begründet. Doch der sogenannte Pflegenotstand hat hausgemachte Ursachen, sie liegen in der Gesundheitspolitik der vergangenen 20 Jahre. Mit aller Macht wurde im Gesundheitssystem und vor allem in der Krankenhausfinanzierung mehr Markt durchgesetzt. So werden private wie auch öffentliche Häuser seit 2004 über Fallpauschalen finanziert. Die Konkurrenzsituation zwischen den Häusern seitdem ist politisch gewollt. Gespart wird vor allem an den Personalkosten, die im Schnitt 70 Prozent des Etats ausmachen.

Gleichzeitig verhindern rigide Regularien, dass Pflegekräfte auch marktgerecht bezahlt werden, also einen Lohn erhalten, der das Verhältnis von Angebot und Nachfrage spiegelt. Stattdessen wird die Krankenpflege dem freien Spiel der Lobbykräfte im Gesundheitssystem ausgesetzt und unterliegt bislang den Regeln der exzellent organisierten Verbände von Ärzten, Krankenhausbetreibern, Versicherungen und Pharmaindustrie. Das Ergebnis: Auf der einen Seite erzielen private Krankenhäuser zweistellige Profitraten, auf der anderen Seite mangelt es an Fachkräften. Das  Berufsbild der Pflegekraft wurde ruiniert.

Autor

Heino Güllemann

ist seit vielen Jahren in der Entwicklungshilfe tätig. Seit Anfang 2013 betreut er bei dem Kinderhilfswerk terre des hommes Deutschland e.V. das Projekt „Gesundheitsfachkräfte für alle“, www.healthworkers4all.eu
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, die Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz und andere vereint, verweist ebenfalls auf den Zusammenhang von schlechten Arbeitsbedingungen und Fachkräftemangel. In einem gemeinsamen Positionspapier heißt es, die Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland dürfe die Versuche nicht unterlaufen, die Arbeitssituation von Pflegekräften zu verbessern. „Aus fachlicher Sicht kann das Zuwanderungsrecht keinesfalls strukturelle Probleme des Arbeitsmarktes und der Pflege lösen.“ Im Gegenteil, die Zuwanderung birgt das Risiko, dass sich die Situation weiter verschärft: Wenn die schwache Position der Migrantinnen dazu führt, dass das Lohnniveau, die Arbeitsqualität und der Stellenwert von Arbeitnehmerrechten weiter gesenkt werden, dann wird das die Attraktivität der Pflegeberufe weiter mindern.

Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Die Bundesregierung steht in der Pflicht, korrigierend in die Selbstverwaltung des Gesundheitssystems einzugreifen. Pflegeberufe müssen in Deutschland attraktiver werden, um wieder mehr Berufseinsteiger zu gewinnen und zu halten. Der Bedarf an grenzüberschreitender Anwerbung von Gesundheitsfachkräften würde damit sinken. Insofern wären attraktivere Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege in Deutschland auch ein wertvoller entwicklungspolitischer Beitrag zur Stabilisierung von Gesundheitssystemen in ärmeren Ländern im Osten und Süden.

Denn selbst ein Land wie die Philippinen, das aus dem Export von Pflegekräften ein erfolgreiches Geschäftsmodell gemacht hat, gerät inzwischen an seine Grenzen: Die steigende Nachfrage aus dem Norden hat zu einem Boom von privaten Pflegeschulen geführt. Die philippinische Regierung räumte im vergangenen Jahr in einem internen Bericht ein, dass der plötzliche Anstieg der Absolventenzahlen die Qualität der Ausbildung ruiniert hat. Und dass es oft die besten sind, die ihre Heimat verlassen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht
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