Hauptstadt aus Zelten

In Port-au-Prince liegen die Pläne für den Wiederaufbau auf Eis

Dany Exilus versucht zu lächeln, immer wieder. Es will ihr nicht richtig gelingen. Sie ist 16 und hat traurige Augen. Ihr linker Arm ist abgeschnitten, eine Hand breit über der Stelle, wo einmal ihr Ellbogen war. Die Wunde von der Amputation ist längst vernarbt. Als am Nachmittag des 12. Januar in Haiti die Erde bebte, war Dany zu Hause in Delmas, einem Vorort östlich von Port-au-Prince. Das Haus stürzte über ihr zusammen. Sie kam nicht weg, ihr linker Arm war von einer umgestürzten Wand eingeklemmt. „Jemand hat mir von draußen ein Messer zugeworfen, und ich habe den Arm abgeschnitten.“ Dany erzählt ohne erkennbare Regung. „Dann konnten sie mich herausziehen.“ In einem Zeltkrankenhaus in der Nähe des Flughafens wurde sie später operiert.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.

Jetzt wohnt Dany Exilus mit ihrer Familie in einem Zelt auf dem Marsfeld vor der Ruine des Präsidentenpalastes von Port-au-Prince. Die sieht noch fast genauso aus wie am Tag nach dem Beben. Nur ein bisschen Schutt wurde abtransportiert, und ein Panzerwagen der Vereinten Nationen (UN) steht nun auf dem Rasen davor, gleich neben der großen Flagge von Haiti. Vom Rand des Marsfelds, wo lange Reihen von Chemietoiletten stehen, kommt man über verwinkelte schmale Pfade zum Zelt der Familie Exilus. Langsam baut Danys Vater die Unterkunft zur Hütte aus. Ein paar Balken und Planken aus Holz, ein Stück Wellblech fürs Dach. Auf den Straßen findet sich genug brauchbares Material. Noch immer räumen die Menschen Trümmer von ihren Grundstücken auf die Straße; von Hand, mit der Schaufel oder mit einer Schubkarre. Der Schutt müsste von einem Lastwagen der Stadtverwaltung abgeholt werden. Aber der kommt nicht.

Die ohnehin engen Straßen im Zentrum von Port-au-Prince werden durch das Gerümpel noch enger. Oft bleibt neben den Schuttbergen nicht einmal eine Spur für den Verkehr frei. Nur Fußgänger kommen noch durch. Die Infrastruktur Haitis, bereits vor dem Beben instabil, ist völlig zusammengebrochen. Doch die Stadt ist wieder laut und lebendig geworden. Die Etappe der Nothilfe ist vorbei, aber der Wiederaufbau hat noch nicht begonnen. Haiti steckt dazwischen und richtet sich in diesem Zustand ein.

Die internationale Gemeinschaft hat über fünf Milliarden US-Dollar Hilfe für die ersten beiden Jahren nach dem Beben versprochen und fast noch einmal denselben Betrag für die Jahre danach. Das Geld soll in einen Treuhandfonds fließen und von einer Kommission verwaltet werden, die zur Hälfte aus Haitianern und zur anderen Hälfte aus Repräsentanten von Hilfsorganisationen und Gebernationen besteht. Den Vorsitz haben der frühere US-Präsident Bill Clinton und der haitianische Premier Jean-Max Bellrive. Richtlinien für den Wiederaufbau haben haitianische Städteplaner bereits Ende März bei einer von den UN organisierten Geberkonferenz in New York präsentiert. Sie sehen vor, dass ein großer Teil der Bevölkerung von Port-au-Prince in kleinere Städte umgesiedelt wird – in sicherer Entfernung von Gegenden, die von Naturkatastrophen bedroht sind. Dabei geht es nicht nur um den Grabenbruch, der Port-au-Prince durchkreuzt und der die Ursache für das Erdbeben war. Auch die Folgen der periodisch auftretenden Hurrikans mit Überschwemmungen und Erdrutschen sind in der Planung berücksichtigt. Zugleich soll damit das chaotische Wachstum der Hauptstadt eingedämmt werden.

Die Einwohnerzahl von Port-au-Prince hat sich in den vergangenen 25 Jahren auf drei Millionen verdoppelt. „Wenn wir nichts tun, wird die Stadt in 15 Jahren sechs Millionen Einwohner haben“, sagt der Städteplaner Leslie Voltaire, der den Plan bei der Geberkonferenz vorgestellt hat. Ihm schwebt vor, dass Haiti nicht mehr von einer einzigen Metropole dominiert wird, sondern von einem Netzwerk aus kleineren urbanen Wachstumszentren. „Wir müssen unbedingt ein Gleichgewicht herstellen“, sagt er. Allerdings müsse man für die Bevölkerung Anreize schaffen, in ländlicheren Gegenden zu bleiben. Dort müssten Krankenhäuser und Schulen gebaut werden.

Niemand weiß, ob die Notunterkünfte einem Hurrikan standhalten

Tatsächlich haben in den Tagen nach dem Beben rund 600.000 Menschen das zerstörte Port-au-Prince verlassen, meist auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft. Auch Zeltstädte wurden in der Umgebung aufs flache Land gestellt. Doch mindestens die Hälfte dieser Stadtflüchtlinge ist schon wieder zurückgekehrt. Auf dem Land gibt es so gut wie keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die informelle Wirtschaft mit Straßenhändlern und Tagelöhnern verspricht nur im Moloch der Hauptstadt ein bescheidenes Einkommen. Dort werden auch die meisten Hilfsgüter verteilt.

Nun liegen die Pläne für den Wiederaufbau erst einmal auf Eis. Erst Mitte Juni traf sich die Wiederaufbau-Kommission zum ersten Mal in Haiti. Auch Monate nach dem Beben ist staatlichen wie nichtstaatlichen Organisationen nicht klar, was sie eigentlich tun müssen, um etwas vom versprochenen Geld für den Wiederaufbau zu erhalten. Bisher wurde wenig in den Fonds einbezahlt, und sehr wenig davon wurde ausgegeben. Dabei sollte verhindert werden, dass es nach der Katastrophe ähnlich chaotisch zugeht wie nach dem Tsunami Ende 2004 in Südostasien. Dort hatten sich Helfer am einen Ende einer Insel um die besten Projekte gestritten, am anderen Ende kam wochenlang keine Hilfe an.

Ende Mai hat die Regenzeit begonnen. Viele Hilfsorganisationen bauen nun Übergangsunterkünfte. Meist sind es einfache, knapp 20 Quadratmeter große Hütten mit einem Gerüst aus Holz, Wänden aus dicker Plastikplane und einem Dach aus Wellblech. Gegen Regen schützen solche Unterkünfte besser als ein Zelt. Doch drinnen ist es heiß wie in einem Backofen. Und niemand wagt vorauszusagen, ob diese Unterkünfte einem Hurrikan standhalten. Die Hütten gehören zum Standardprogramm bei Einsätzen nach einer Katastrophe: Erst werden Zelte aufgestellt, dann Übergangsunterkünfte errichtet und erst danach Häuser gebaut.

„Sinnvoll ist das dort, wo viele Menschen ihre Wohnungen nur gemietet hatten oder wo die Eigentumsverhältnisse möglicher Bauplätze nicht klar sind“, sagt Astrid Nissen von der Diakonie-Katastrophenhilfe. Doch solche Probleme ließen sich in Verhandlungen mit den Bürgermeistern lösen, wie das Beispiel Jacmel zeige. Die rund 150.000 Einwohner zählende Stadt im Süden Haitis war in den Jahren 2007 und 2008 von Hurrikans verwüstet worden. Danach habe man begonnen, beschädigte Häuser zu renovieren und gegen Wirbelstürme zu befestigen. „90 Prozent dieser Häuser haben das Erdbeben ohne Schäden überstanden“, sagt Nissen. Die damaligen Baupläne wurden nach der Erfahrung mit dem Beben noch einmal überarbeitet, die Häuser sollen noch stabiler werden. Obdachlos gewordene Familien, die nun ein sicheres Heim bekommen sollen, müssen das Grundstück von Schutt befreien und für Wasser, Sand und Steine sorgen. Die Hilfsorganisation stellt die übrigen Materialien und ein eingespieltes Team aus örtlichen Handwerkern besorgt dann den Rest.

"Zeltstädte wird es auch noch in drei oder fünf Jahren geben"

Inzwischen stehen gut 100 Rohbauten in Jacmel und im nahe gelegenen Bainet. Ein kleines Haus mit rund 25 Quadratmetern Grundfläche ist laut Nissen nur unwesentlich teurer als eine Übergangsunterkunft. Und es ist eine Lösung auf Dauer. Doch derartige Beispiele sind selten. Oft planen und arbeiten lokale Behörden und Hilfsorganisationen aneinander vorbei. Nissen vermutet gar, dass es „zum Teil eine bewusste Blockade der schwachen staatlichen Koordinationsgremien“ gibt. Die Opposition macht Präsident René Préval für den Stillstand verantwortlich und hat auch schon erste kleine Demonstrationen organisiert. „Es wird mehr Proteste geben“, sagt der Politiker Rony Smarth, der während der ersten Amtszeit von Préval in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eine Zeit lang Premierminister war und inzwischen der Opposition nahe steht. „Die Atmosphäre wird giftiger werden. Es könnte zu einer Rebellion kommen.“

Ein Teil der Préval-Gegner würde den Präsidenten am liebsten stürzen, um selbst ans Ruder zu kommen. Denn Haiti erwartet einen Geldsegen und das weckt Begehrlichkeiten. Préval hat Anfang Mai den Ausnahmezustand um 18 Monate verlängert. Das gibt der Regierung die Möglichkeit, Staatsaufträge ohne öffentliche Ausschreibung zu vergeben und damit ihre eigene Klientel zu bedienen. Smarth sieht eine weitere Gefahr: Die Kommission, die die internationalen Hilfsgelder verwaltet, könnte Aufträge ohne große Prüfung an Firmen aus den USA vergeben. Das Geld fließe nach Haiti und gleich darauf wieder in den Norden zurück. Zumindest politisch ist Haiti wieder zur Normalität zurückgekehrt: Eine kleine städtische Oberschicht, deren Parteien kaum Verankerung im Volk haben, streitet sich um die Geldtöpfe des Staates. Je mehr Geld nach Haiti fließt, desto härter wird dieser Streit werden. Smarth erwartet „eine Zeit politischer Instabilität“. Das wäre kein gutes Umfeld für den anstehenden Wiederaufbau. „Zeltstädte wird es in Haiti auch noch in drei oder fünf Jahren geben“, sagt der Ex-Premier.

Sie werden dann kaum mehr so aussehen wie heute. Schon jetzt verändern sie sich täglich. Das Marsfeld vor dem Präsidentenpalast ist kein bloßes Notlager mehr, in dem die Menschen darauf warten, versorgt zu werden. An den Rändern und überall, wo die Wege ein bisschen breiter sind, wird gearbeitet und Geld verdient. Es gibt kleine Läden, Friseure und Lotto-Stände, Garküchen und Handwerker, Aufladestationen für Mobiltelefone und selbst Kinos, in denen auf Großbildschirmen Videos gezeigt werden. Die meisten Haitianer haben schon vor dem Erdbeben nur dank ihrer Improvisationskunst überlebt. Jetzt improvisieren sie wieder.

Das Zelt, in dem Dany Exilus mit ihrer Familie lebt, ist mit Bretterwänden in drei Zimmer aufgeteilt. Der Vater hat die Zeltstangen durch solide Balken ersetzt. Jetzt sucht er nach mehr Wellblech fürs Dach. Irgendwann wird man nicht mehr erkennen, dass dies einmal ein Zelt war. In der Nachbarschaft stehen schon ein paar solcher Hütten mit Wänden aus Holz und richtigen Türen mit Schlössern. Bald wird das Marsfeld kein Notlager mehr sein, sondern ein neues Armenviertel – das ärmste von allen.

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch

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