Der Fluch des schnellen Geldes

China-Boom in Lateinamerika
Chinas Hunger nach Rohstoffen hat Lateinamerika zehn Jahre lang hohe Export­einnahmen verschafft. Doch die Staaten der Region
haben sie nicht sinnvoll genutzt.

Lateinamerika hat von 2003 bis 2013 einen wahren China-Boom erlebt. Denn es konnte genau die Rohstoffe liefern, die China für sein Wachstumswunder brauchte. Jetzt scheinen sich die Konjunkturaussichten in Lateinamerika zu drehen. Denn Chinas Heißhunger auf Rohstoffe nimmt langsam ab und das Land richtet seine Wirtschaft neu aus: vom exportgetragenen industriellen Wachstum hin zu einer stärker konsumbasierten Wirtschaft.

Der China-Boom markierte eine neue Phase in der Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Großen Depression in den frühen 1930er Jahren hatte es von der „Rohstoff-Lotterie“ profitiert, wie Wirtschaftshistoriker es genannt haben: Der Subkontinent exportierte Agrargüter und Rohstoffe nach Westeuropa, die dort während der Industrialisierung besonders gefragt waren, zum Beispiel Silber, Gold, Kaffee, Wolle und Bananen. Auf die Große Depression folgte ein Zeitalter „staatlich betriebener Industrialisierung“: Lateinamerikanische Regierungen bauten die Infrastruktur aus und förderten gezielt Industriezweige, die Importe aus den Vereinigten Staaten und Europa ersetzen sollten. Die Volkswirtschaften der Region wuchsen damals im Durchschnitt um fast fünf Prozent pro Jahr. Doch auch Wohlstands- und Einkommensunterschiede stiegen, und eine Reihe von Diktaturen etablierte sich.

In den 1980er Jahren leitete die lateinamerikanische Schuldenkrise den Niedergang des staatlichen Dirigismus ein. Die Region war gezwungen, sich dem sogenannten Washington Consensus, den von IWF und Weltbank auferlegten Rezepten, zu unterwerfen. Deren Grundprinzip war, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu verringern. Die Regierung sollte sich heraushalten und die Wirtschaft für globalen Handel und Finanzen öffnen, so dass die Märkte gedeihen und den Wohlstand mehren könnten.

Das jährliche Wachstum betrug in dieser Periode nur 2,4 Prozent und die Ungleichheit verschärfte sich weiter. Der Washington Consensus hat immerhin die hohe Inflation und die finanzpolitische Verantwortungslosigkeit beendet, und viele Länder sind zu einer formalen Demokratie zurückgekehrt. Doch er machte den Subkontinent auch sehr anfällig für externe Schocks. Gegen Ende des Jahrhunderts erschütterte eine Welle von Finanzkrisen die Region, von Mexiko über Brasilien nach Argentinien und darüber hinaus. Daraufhin wurden die Verfechter des Washington Consensus in mehreren jungen Demokratien aus dem Amt gejagt.

In dieses Vakuum stieß China – vor allem in Südamerika. Auch China öffnete seit den späten 1970er Jahren seine Volkswirtschaft für die globalen Märkte. Anders als Lateinamerika konnte es aber die Bedingungen dafür selbst bestimmen. Chinas Reformen gingen nicht wie in Lateinamerika auf eine große extern bedingte Krise zurück, und es waren keine Experten aus Washington beteiligt, die Vorgaben machten. Peking öffnete einige Bereiche der Wirtschaft nach und nach und schützte andere so lange, bis sie sich im globalen Wettbewerb behaupten konnten.

Kupfer aus Chile, Eisen aus Brasilien

Infolgedessen wuchs Chinas Wirtschaft dreißig Jahre lang um zehn Prozent jährlich – das ist das stärkste jemals verzeichnete Wachstum. 2001 trat China der Welthandelsorganisation (WTO) bei und begann kurz darauf, den Handel rasant auszuweiten, auch mit Lateinamerika. China kaufte in Venezuela, Ecuador und Mexiko riesige Mengen Öl für seine immer zahlreicheren Kraftfahrzeuge, Lastwagen und Containerschiffe. Es stellte über die Hälfte aller Produkte der Unterhaltungselektronik weltweit her und verwendete dafür große Mengen Kupfer aus Chile und Peru. Es baute viele seiner neuen Städte mit Beton, in dem Eisenerz aus Brasilien steckt. Als der Lebensstandard stieg, begannen die Chinesen mehr Rindfleisch zu essen – von Tieren, die mit Soja aus Argentinien und Brasilien gemästet wurden. Firmen aus China strömten nach Lateinamerika, um mit Unterstützung der staatlichen chinesischen Entwicklungsbanken in diese Rohstoffe zu investieren.

Das lässt sich an den Zahlen ablesen. Zur Jahrtausendwende machte der Handel mit China nur ein Prozent des gesamten lateinamerikanischen Handels aus und hatte einen Umfang von zwölf Milliarden US-Dollar. Bis 2013 war er auf 289 Milliarden US-Dollar gewachsen, und China war nun der wichtigste Handelspartner der größten Volkswirtschaften auf dem Subkontinent, darunter von Brasilien, Peru und Chile.

Zudem wurden wegen der enormen chinesischen Nachfrage die Rohstoffe knapper und ihre Preise auf dem Weltmarkt zogen an. Die Kombination aus mehr Nachfrage und höheren Preisen brachte die Rohstofflieferanten in den Genuss eines wahren Rohstoffbooms. Große Firmen aus China und anderen Ländern investierten riesige Summen in den Sektor. China hat enorme Beträge für Infrastruktur-, Bergbau- und Energieprojekte in Lateinamerika zur Verfügung gestellt: Zwischen 2005 und 2016 flossen mehr als 125 Milliarden US-Dollar in Form von Darlehen und Kreditlinien an lateinamerikanische Staaten.

Die Umwelt leidet, Regierungen schauen weg

Chinas Hunger nach Rohstoffen war eine Art Rettung für Lateinamerika – besonders nach der Weltfinanzkrise der Jahre 2008 und 2009, als der Handel mit und Investitionen aus Europa und den USA praktisch zum Erliegen kamen. Zwischen 2003 und 2013 wuchs Lateinamerika im Sog des chinesischen Wirtschaftswachstums um jährlich 3,6 Prozent. Einige Regierungen dort begannen zum ersten Mal seit einem Jahrhundert, gegen die wirtschaftliche Ungleichheit vorzugehen.

Dennoch wurde der China-Boom in vieler Hinsicht verschleudert. Laut der Theorie vom Ressourcenfluch fließt während eines Rohstoffbooms Geld in den Rohstoffsektor und schafft dort riesige Sondergewinne, aber nur wenige Arbeitsplätze. In der Regel steigt der Wechselkurs, so dass die Exporte anderer Wirtschaftszweige im Ausland teurer werden. Genau das geschah im Großen und Ganzen in Lateinamerika während des China-Booms. 92 Prozent des produzierenden Gewerbes dort haben während des Booms Weltmarktanteile an China verloren.

Mehr noch: Chinesische, nordamerikanische und europäische Unternehmen haben bei der Jagd nach Rohstoffen den Regenwald im Amazonas abgeholzt, Flüsse verseucht und nicht selten die Rechte indigener und lokaler Gemeinschaften mit Füßen getreten – und die meisten lateinamerikanischen Regierungen haben geflissentlich weggesehen.

Länder wie Norwegen sind dem Ressourcenfluch entgangen, indem sie Gewinne aus dem Rohstoffhandel in eine wettbewerbsfähige Exportproduktion, Finanzstabilität, Umweltschutz und langfristiges Wachstum investiert haben. Das geschah in Lateinamerika nicht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass dort während des letzten Booms weniger Geld gespart wurde als in den vorhergehenden. Berechnungen der Vereinten Nationen zeigen, dass auch die Steuereinnahmen nicht im Verhältnis zu den Rohstoffgewinnen gestiegen sind. Es überrascht nicht, dass dann auch die Investitionen niedrig waren. Als Faustregel gilt, dass für starkes und stabiles Wachstum jährlich ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts investiert werden muss. China hat in den vergangenen dreißig Jahren jedes Jahr über 40 Prozent investiert. In Lateinamerika betrug der Durchschnitt nur 20 Prozent, nicht einmal ein Prozent mehr als während des Washington Consensus.

Unruhige Übergangsphase für China

Nun kehrt sich der Rückenwind, der die Region ein Jahrzehnt lang getragen hat, allmählich um. China durchlebt eine unruhige Übergangsphase hin zu einer mehr konsumbasierten Wirtschaft. Das bedeutet zum einen ein geringeres Wirtschaftswachstum: Es liegt nicht mehr bei zehn Prozent jährlich, sondern eher bei sieben Prozent. Zweitens wird China künftig eher Konsumgüter als Rohstoffe nachfragen, und es ist nicht klar, ob lateinamerikanische Industrieerzeugnisse im Wettbewerb um diesen chinesischen Markt mithalten können. Und schließlich wird der Wandel der Wirtschaft in China heikel und störanfällig sein. Ein langsameres Wachstum in China, qualitativ anderes Wachstum und zunehmende Instabilität sind Schreckensszenarien für die Finanzministerien in Lateinamerika.

Noch hat Lateinamerika Zeit, Reformen vorzunehmen, um nachhaltiges, stabiles Wachstum zu schaffen und vom Aufstieg Chinas zu profitieren. Der Schlüssel liegt darin, staatliche Institutionen zu stärken, damit sie in Zeiten einer guten Konjunktur einen größeren Anteil an den Rohstoffeinnahmen erhalten. Diese Erträge müssen in eine intelligente Infrastruktur, in Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit sowie in Bildung und Umweltschutz investiert werden.

Um einen Anteil der Sondergewinne abzuschöpfen, sind Steuerreformen nötig. Für die Planung von neuen Investitionen braucht es einen Prozess, in dem Staat und Privatsektor gemeinsam prüfen, was die wirtschaftliche Entwicklung hemmt und wie man diese Hindernisse in inklusiver und nachhaltiger Weise überwindet. Die größte Aufgabe ist vielleicht, angemessene Kontrollmechanismen einzubauen, damit Lobbygruppen und Amtsträger nicht mit den Reformen auch die Korruption befördern. Sowohl der Privatsektor als auch der Staat müssen stärker zur Verantwortung gezogen werden. Jede ernsthafte Reform wird sich außerdem an der Außenwelt ausrichten müssen. Das bedeutet, die Verbindungen zu den beiden größten Volkswirtschaften der Welt zu nutzen und zu stärken: China und den Vereinigten Staaten.

Lateinamerika muss verhandeln

Anfang 2015 haben sich die Chinesen mit der Region Lateinamerika als Ganzer zusammengesetzt, um einen Kooperationsplan auszuarbeiten, der zumindest auf dem Papier Reformen in Lateinamerika perfekt ergänzen könnte. China versprach, den Handel mit Lateinamerika auf 500 Milliarden US-Dollar im Jahr zu steigern und in den nächsten zehn Jahren 250 Milliarden US-Dollar zu investieren. Es hat schon neue Fonds mit einem Volumen von über 35 Milliarden US-Dollar für die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen in Lateinamerika eingerichtet. Der Kooperationsplan sieht auch einen Dialog über Zusammenarbeit in Umweltfragen vor. Das könnte eine Plattform sein, mit deren Hilfe chinesische Unternehmen und Finanzinstitutionen ihre Sozial- und Umweltstandards anheben.

China sagt darüber hinaus einen Technologietransfer und Gespräche über die Einrichtung chinesischer Industrieparks in Lateinamerika zu nach dem Muster der Sonderwirtschaftszonen, die Chinas Wachstumswunder mit angetrieben haben. Falls Lateinamerika mit Reformen dafür sorgt, dass solche Zonen auf den Rest der Wirtschaft ausstrahlen, könnten chinesische Industrieparks helfen, die lateinamerikanischen Volkswirtschaften zu diversifizieren und wettbewerbsfähiger zu machen. Aber die Länder Lateinamerikas müssen hart verhandeln, damit diese Parks mit der übrigen Wirtschaft verbunden werden, örtliche Arbeitskräfte beschäftigen und nicht die sehr umweltschädlichen Produktionsprozesse aus China importieren.

Der IWF gibt das Wachstum Lateinamerikas für 2014 mit unter zwei Prozent an. Unter diesen Umständen können neue Finanzzuflüsse der Region möglicherweise den fiskalischen Spielraum geben, den sie für Infrastrukturinvestitionen braucht. Bisher sind chinesische Kredite an wenige Bedingungen geknüpft. Vielleicht erwartet China stillschweigend, dass chinesische Unternehmen an dem einen oder anderen Projekt zu beteiligen sind, hält sich aber aus der nationalen Politik heraus.

Für viele lateinamerikanische Regierungen ist das attraktiv. Jetzt steht die Region in der Pflicht, das Geld produktiv zu nutzen. Die Währungen vieler Länder werden im Vergleich zu den Höchstständen während des China-Booms abwerten, so dass Exporte konkurrenzfähiger werden. Das und die steigende Nachfrage nach Konsumgütern in China lassen sich für ein diversifiziertes Wachstum in Lateinamerika nutzen.

Autor

Kevin P. Gallagher

ist Professor für Globale Entwicklungspolitik an der Pardee School for Global Studies der Boston University und Ko-Direktor der Global Economic Governance Initiative dort. Der Artikel beruht auf seinem neuen Buch „The China Triangle: Latin America’s China Boom and the Fate of the Washington Consensus“ (Oxford University Press, 2016).

Gleichzeitig müssen muss sich die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA ändern: Statt auf Patronage müssen sie künftig auf Partnerschaft beruhen. Viele Handels- und Investitionsabkommen zwischen den USA und lateinamerikanischen Ländern müssen grundlegend reformiert werden. Diese Verträge aus der Zeit des Washington Consensus lassen den Regierungen nicht den Spielraum, in Innovationen und eine wettbewerbsfähige Exportproduktion zu investieren. Und sie geben US-amerikanischen Unternehmen das Recht, gegen Regierungen zu klagen, die Verbesserungen im Sozial- und Umweltbereich anstreben.

Leider ist das Transpazifische Partnerschaftsabkommen (TPP) hier keine Verbesserung: Es gäbe lateinamerikanischen Regierungen wenig Spielraum, Rohstoffgewinne abzuschöpfen und sie in Innovationen, Umweltschutz und soziale Inklusion zu investieren. Um langfristig auf den Weg nachhaltiger Entwicklung zu kommen, müssen die Regierungen dort Reformen angehen und sich zugleich erfolgreich im Spannungsfeld zwischen den Vereinigten Staaten und China bewegen.

Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2016: Welthandel: Vom Segen zur Gefahr?
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