„Großes Netz mit weiten Maschen“

Die sozialen Sicherungssysteme in Südafrika haben die Ungleichheit kaum verringert

Südafrikas Verfassung garantiert das Recht auf soziale Sicherheit. Das Land besitzt ein System der sozialen Sicherung von der beitragsfinanzierten Arbeitslosenversicherung bis hin zur steuerfinanzierten Altersrente. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist dennoch gewaltig. Die südafrikanische Sozialwissenschaftlerin Isobel Frye hält ein bedingungsloses Grundeinkommen für das wirkungsvollste Instrument im Kampf gegen Armut und Ungleichheit.

Laut der südafrikanischen Verfassung haben alle das Recht auf soziale Sicherheit und Sozialhilfe. Was bedeutet das in der Praxis?

Südafrika hat das umfangreichste soziale Netz aller Entwicklungsländer. Laut dem Grundsatzpapier von 1997 sollen Sozialversicherungen und Sozialhilfe die Menschen unterstützen, ihr eigenes Wohl voranzubringen und zur Entwicklung der Nation beizutragen. Niemand sollte weniger als ein bestimmtes Grundeinkommen haben. Das Sozialhilfe-System umfasst unter anderem eine steuerfinanzierte Rente für Frauen über 60 und für Männer über 65 Jahren. Bei Männern wird die Altersgrenze auf 60 herabgesetztwerden, dazu ist eine Verfassungsklage anhängig. Zudem gibt es eine Behindertenrente, die Menschen mit HIV/Aids jedoch nicht in Anspruch nehmen können. Die breiteste Unterstützung ist ein Kindergeld, das zur Zeit acht Millionen Mädchen und Jungen unter 15 Jahren erhalten. Die Höhe der Unterstützung variiert stark: Alte Menschen bekommen 960 Rand (76 Euro) pro Person und Monat, Kinder nur 220 Rand (17 Euro).

Wie viele Menschen erhalten denn Sozialhilfe?

Im November 2008 waren es 12,6 Millionen Menschen. Bei einer Bevölkerung von 48 Millionen entspricht das einem Viertel.

Wie viel Geld gibt der Staat für sein soziales Netz aus?

Etwa drei Prozent des Bruttoinlandproduktes, das heißt rund 78 Milliarden Rand (6 Milliarden Euro) im Jahr. Das schließt die Verwaltungskosten ein. Der Betrag wird steigen, weil die Regierung das Kindergeld auf Weisung des Verfassungsgerichtes auch an 16- bis 18-Jährige zahlen muss.

Wie ist die Vergabe von Sozialhilfe organisiert? Gibt es ein hohes Ausmaß an Betrug?

Es gibt immer Bedenken wegen Betrug. Zurzeit wird die Sozialhilfe auf nationaler Ebene von der South African Social Security Agency vergeben. Aber die Entscheidung, ob jemand bezugsberechtigt ist, fällt auf der Ebene der Distrikte. Und das gibt Anlass zur Sorge, denn manchmal sind die Beamten korrupt. Sie sagen zum Beispiel, du kannst Unterstützung bekommen, aber du musst mir jeden Monat die Hälfte abgeben. Und weil die Menschen keinen Grund sehen, in solchen Fällen anderen mehr zu vertrauen, gibt es kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen.

Sie haben erwähnt, dass Menschen mit HIV/Aids keine Unterstützung bekommen. Gibt es weitere Löcher im Netz?

Es gibt keine Hilfen für arbeitsfähige Menschen zwischen 15 und 59 Jahren. Wenn man arm und arbeitslos ist, hat man kein Recht auf staatliche Unterstützung. Zudem schafft die Vergabe der Beihilfen nach Alter, Behinderung und für Kinder perverse Anreize. Viele glauben etwa, dass HIV-Positive Geld erhalten, und es gibt Berichte von Menschen, die eine Ansteckung provozieren in der Hoffnung auf finanzielle Hilfe. Etwa die Hälfte der südafrikanischen Bevölkerung lebt in Armut. Wenn Sozialhilfe der einzige Weg ist, armen Familien Geld zukommen zu lassen, muss man sie auf diese gesamte Gruppe ausdehnen. Aber die Form und die Höhe dieser Ausweitung sind noch nicht endgültig geklärt.

Was schlägt Ihr Institut vor?

Wir setzen uns seit neun Jahren für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. So bekämen die Menschen das Geld direkt. Man müsste weder Programm- noch Projektmanager bezahlen und es wäre unmöglich, bei der Auszahlung zu betrügen. Jeder würde wissen, dass er Anspruch hat auf 100 oder 250 Rand (knapp 20 Euro). Das Grundeinkommen würde Solidarität in der Gesellschaft wecken. Wir nennen es auch eine Demokratie-Dividende. Viele fragen, was ihre demokratische Freiheit wert ist. Wenn ich vor 15 Jahren fast verhungert bin und ich bin jetzt am Verhungern - was ist der Unterschied? Ein Grundeinkommen würde auch Menschen befähigen, einen Job zu finden. Das zeigen viele Studien über die derzeitigen Hilfen. Der kleine Betrag gibt ihnen die Chance, einen Bus zu bezahlen, ein Hemd zu kaufen, um zu einem Bewerbungsgespräch zu gehen.

Aber wie soll das finanziert werden?

Südafrika ist im weltweiten Vergleich eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit. Der einzige Weg, diese Einkommensungleichheit zu überwinden, ist eine Erhöhung der Einkommenssteuern. Seit 1994 sind die Steuern ständig verringert worden. Diejenigen, die Geld verdienen, haben jedes Jahr mehr Kaufkraft. Zur Finanzierung eines Grundeinkommens könnten die Einkommenssteuern progressiv erhöht werden, so dass die Reichsten proportional mehr bezahlen.

In Südafrika soll am 22. April gewählt werden. Was halten die politischen Parteien von einem Grundeinkommen?

Unter Politikern findet das Konzept keinen Gefallen. Sie denken, es ist teuer, und das stimmt auch. Außerdem gibt es Bedenken, dass unter den Empfängern die Abhängigkeit zunehmen könnte. Aber das ist rein ideologisch. Wir sprechen über einen kleinen Betrag, der die Menschen aus dem Elend retten würde, höchstens 250 Rand (20 Euro). Der Mindestlohn liegt bei 1200 Rand (95 Euro). Den könnte das Grundeinkommen nicht ersetzen. Aber noch ärgerlicher ist die Einstellung - vor allem beim African National Congress (ANC), der einst behauptet hat, eine soziale demokratische Partei zu sein: Ich habe es geschafft, weil ich hart gearbeitet habe, andere sollten das auch tun. Das heißt, die Armen verdienen es, arm zu sein - man ignoriert die strukturellen Hindernisse, die es erschweren, der Armut zu entkommen. Der ANC hat die Idee eines universellen Grundeinkommens in der Vergangenheit abgelehnt. Nun gibt es Signale, dass das Thema nach den Wahlen auf die Tagesordnung kommen könnte. Zugleich wäre es ein Desaster, wenn eine der anderen Parteien es aufgreifen würde. Denn der ANC würde alles ablehnen, was andere Parteien befürworten, um als fortschrittlich dazustehen.

In Südafrika leben viele Gastarbeiter und Flüchtlinge aus Nachbarländern. Haben sie auch Anrecht auf Sozialhilfe?

2006 gab es dazu eine Verfassungsklage. Die Kläger setzten sich dafür ein, dass Sozialhilfe auch an Ausländer mit Arbeitsgenehmigung sowie an Flüchtlinge gezahlt wird. Die Regierung stimmte damals nur einer Ausweitung auf Gastarbeiter zu. Inzwischen hat sie zugesagt, auchFlüchtlingen und anerkannten Asylbewerbern eine Art Sozialhilfe zu gewähren. Es gibt einen Flüchtlingsfonds, der dafür verwendet werden soll. Er wurde 1997 gründet und häuft seitdem Geld an. Die Regierung weiß wohl, dass das nicht verfassungsgemäß ist. In den nächsten sechs bis zwölf Monaten wird sich da etwas bewegen. Aber es besteht auch eine Gefahr: Kein anderes Land in der südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft SADC besitzt eine Form von Einkommensunterstützung. In den meisten gibt es eine Altersrente, in einigen ein Kindergeld, aber der Betrag ist geringer als in Südafrika. Das Risiko ist groß, dass viele Wirtschaftsflüchtlinge nach Südafrika kommen, wenn wir ein Grundeinkommen einführen.

Könnte Südafrika anderen afrikanischen Staaten als Modell dienen?

In der SADC gibt es eine Vereinbarung, Sozialversicherungen und Sozialhilfe voranzubringen. Zwischenstaatliche Arbeitsgruppen sind dabei, einen Minimalstandard zu entwickeln. Südafrika wäre sicher in der Lage, die Führung zu übernehmen. Aber die Frage der Sozialpolitik in Afrika insgesamt ist komplexer. Es gibt keine Einigkeit, was Sozialversicherung und Sozialhilfe sind und wer dafür zuständig ist. In einigen Ländern beruht die Gesellschaft sehr stark auf Clan-Strukturen und Beziehungen zwischen dem Patron und seiner Gefolgschaft. Wenn man dort den Menschen ein unabhängiges Recht auf Einkommen gäbe, würde man diese Hierarchien in Frage stellen.

Das Gespräch führte Gesine Wolfinger.

Isobel Frye leitet das Studies in Poverty and Inequality Institute in Johannesburg, das über Ursachen für Armut und Ungerechtigkeit forscht und Vorschläge für deren Verringerung erarbeitet. Sie hat für „Brot für die Welt" die Studie „Armut, soziale Sicherheit und Zivilgesellschaft in Südafrika" verfasst.

 

 

erschienen in Ausgabe 3 / 2009: Südafrika: Neue Freiheit, alte Armut

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