"Die komplexeste Popmusik der Welt"

epd-bild/Mark Ernestus

Die Ndagga Rhythm Force aus Berlin und dem Senegal.

Mbalax
Der Berliner Elektronikmusik-Produzent Mark Ernestus ist seit mehreren Jahren mit Mbalax-Musikern aus dem Senegal unterwegs.

Dakar (epd). Ndagga Rhythm Force ist eine Gruppe von senegalesischen Musikern, deren Chef ein Berliner ist: der Techno-Produzent Mark Ernestus. Sie machen den typischen Mbalax, einen urbanen Sound, der in den 70er Jahren entstanden ist. Er basiert auf traditioneller senegalesischer Percussion und wird in der westafrikanischen Wolof-Sprache gesungen. Jeder Senegalese kann auf diese Musik tanzen. Für Europäer und andere Afrikaner ist der Rhythmus komplex. "Ich bin kein Tänzer, da kann ich nicht mitreden", flachst Ernestus. Und doch bewegt er Dancefloors in aller Welt.

Ernestus betreibt in Berlin seit 1989 den wichtigen Plattenladen für elektronische Musik "Hard Wax". Ein paar Jahre später gründete er gemeinsam mit Moritz von Oswald die Labels "Basic Channel", "Rhythm & Sound" und "Chain Reaction". Als Produzent vermischte er House und Techno mit Dub und Reggae, mit dem Sänger Tikiman schuf er bahnbrechende Tunes. Und dann entdeckte der Berliner den Mbalax, die "komplexeste Popmusik der Welt". "Das gnadenlos Repetitive im Zusammenspiel mit der verschachtelten Polyrhythmik" habe ihn fasziniert, sagt der 56-Jährige: "Das hat mich nicht mehr losgelassen und immer weiter reingezogen."

"Ich war von Mbalax und den Sabar-Rhythmen angefixt"

Zum ersten Mal hörte Ernestus den Sound 2008, als vor einem Auftritt mit Tikiman in Dänemark ein DJ-Team von Gambiern Reggae und Mbalax auflegte. Ernestus versuchte daraufhin, mehr darüber zu erfahren, aber was er auf Youtube oder in den afrikanischen Kassettenläden in Paris fand, war ihm nicht genug. "Ich war von Mbalax und den Sabar-Rhythmen angefixt und musste am Ende nach Senegal reisen", erinnert er sich.

Er kannte dort niemanden und war noch nie in Afrika gewesen, sprach weder Wolof noch Französisch. Kurz vor Abflug bekam er den Kontakt eines in Berlin lebenden Senegalesen, der zufällig zwei Tage vor ihm nach Dakar flog. "Der war früher Tänzer gewesen und hatte viele Kontakte in der Musikszene."

Eigentlich hoffte Ernestus nur, zwei Wochen lang das Land zu erleben und einen Stapel CDs oder Kassetten zu kaufen. Er hatte für sich ausgeschlossen, auf der Reise Musikaufnahmen zu machen: "Ich habe keine musikalische Ausbildung, bin Autodidakt und arbeite elektronisch. Ich dachte, ich kann da nicht ins Studio gehen und richtigen Musikern sagen, jetzt spielt mal das und das." Genau das hat sich aber sehr schnell ergeben, wie er erzählt.

Mehrtägige Studiosession

In einer mehrtägigen Studiosession wurden zuerst einmal Percussion und Schlagzeug aufgenommen und vereinzelt Keyboard, Gitarre und Gesang. Das Material arrangierte und mischte Ernestus dann in seinem Studio in Berlin.

Er war es gewohnt, seine Stücke allein oder zu zweit in konzentrierter Atmosphäre zu produzieren - und stand plötzlich mit zeitweise 20 Trommlern und anderen Musikern im Studio, die unter seiner Anleitung auf der Basis von senegalesischer Musik spielten. Ihn begeistert besonders die Intensität bei Live-Auftritten: "Sie hören einander mit einer enormen Aufmerksamkeit zu und sind gleichzeitig völlig locker."

In der elektronischen Musik sei ein solches Zusammenspiel selten, sagt er: "Es gibt ja Kollaborationen zwischen westlichen und afrikanischen oder sonstigen nichtwestlichen Musikern - es ist eigentlich Quatsch vom Westen zu reden, man müsste vom Norden reden", fügt er ein und fährt fort: "Ich finde es schade, wenn das nur oberflächlich zusammengemischt wird, und das war es dann."

Weltweit auf Tour

Ihn interessiere ein "ernsthafter" Ansatz, der sich wirklich mit dem Rohmaterial auseinandersetze und Popelemente weitgehend vermeide. Am Anfang musste er mit einzelnen Musikern durchaus verhandeln, sagt er, denn er schätze keine ausufernden Solos: "Was ein Sabartrommler im Senegal machen würde, um sich besonders hervorzutun, ist mir oft zu kunstvoll und stört für meine Ohren eher den Fluss."

Mit der Zeit kristallisierte sich eine Gruppe von Musikern heraus, mit denen er gut arbeiten konnte. "Irgendwann kam das erste Konzert und eine Tour in Europa", erzählt der große, schlanke Berliner. Seit 2014 schon steht nun die aktuelle Besetzung: zwei Sabartrommler, eine Talking Drum, ein Schlagzeuger, ein Keyboarder, eine Sängerin, eine Tänzerin. So sind sie weltweit auf Tour, haben im Januar in Berlin, Köln, Aachen und Frankfurt gespielt, Anfang Februar stand New York auf dem Programm.

Inklusivität der Menschen

Inzwischen verbringt Ernestus die Wintermonate überwiegend in Dakar. Als Teil der senegalesischen Musikszene sieht er sich aber nicht: "Man hat nur seine eigenen Ohren und seinen eigenen Geschmack." Seine Musik treffe vor allem im Westen auf Interesse, wo viele Leute musikalisch ähnlich vorgeprägt seien wie er. Im Senegal nimmt er nur das Rohmaterial auf, in Berlin wird fertig produziert: "Ich hab Respekt vor dem Staub und der salzigen Meerluft, Elektronik lebt da nicht lange."

Nicht nur musikalisch ist der Senegal eine Entdeckung für ihn. "Was ich 'ne enorme Bereicherung finde und was ich jedem wünschen kann, ist der Perspektivwechsel", sagt Ernestus. "Was alles bei uns in Europa wichtig und hier völlig egal ist - und umgekehrt." Er schätzt auch die Inklusivität der Menschen: "Du bist einfach dabei, niemand fragt, warum du da bist", sagt er: "Da stehen fünf Leute, unterhalten sich, du kennst einen davon flüchtig, und es ist völlig logisch, dass du allen die Hand gibst." Die Senegalesen nennen das die "Teranga", ihre Gastfreundschaft.

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