Vom Bahnhofsklo auf die Straße

In Indien hoffen Schwule und Lesben auf ein Ende der Diskriminierung

„Wir sind anders, aber wir sind uns einig!“ Mehr als eintausend auffällig bunt gekleidete Männer und Frauen marschieren am 16. August diesen Jahres durch die Innenstadt von Mumbai, Indiens bevölkerungsreichster Stadt. Sie schwenken Regenbogenfahnen und fordern „Freiheit für Lesben und Schwule“. Einen Tag zuvor hat Indien den 62. Jahrestag der Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft gefeiert. Jetzt macht eine seit der Kolonialzeit diskriminierte Minderheit mit satt geschminkten Lippen, phantasievollen Kopfbedeckungen und Masken auf sich aufmerksam. Das Bollywood-Stargirl Celina Jaitley, die TV-Moderatorin Dolly Thakore und andere Prominente begleiten sie. Es ist eine der ersten „gay pride“-Paraden in Indien überhaupt. „Voriges Jahr habe ich mich nicht getraut, an diesem Marsch teilzunehmen“, sagt Raja Bagga, ein schwuler Banker, einem indischen Reporter. „Aber diesmal ist alles anders.“

Der 2. Juli 2009 wird indischen Schwulen und Lesben noch lange im Gedächtnis bleiben. An diesem Tag erklärte in der Hauptstadt Neu-Delhi ein Gericht den Artikel 377 des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig und setzte ihn praktisch außer Kraft. Der Artikel stammt aus dem Jahr 1860, als die britische Queen Victoria als „Kaiserin von Indien“ das Sagen hatte. Er stellt nicht nur Vergewaltigung, Sex mit Minderjährigen und Tieren unter Strafe, sondern auch gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr zwischen Erwachsenen, selbst wenn dieser in beiderseitigem Einverständnis stattfindet. Diese Bestimmung ist nun vorläufig ausgesetzt. Das Oberste Gericht und die Regierung sind aufgefordert, neue gesetzliche Regelungen zu formulieren.

Autor

Rainer Hörig

war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig. Heute arbeitet er als Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“.

Zwar hat Artikel 377 nur zu wenigen rechtskräftigen Verurteilungen geführt, aber er schwebte über den Homosexuellen wie ein Damoklesschwert. „Im Alltag hat sich durch den Richterspruch nicht viel verändert“, sagt der schwule Schriftsteller Raj Rao. „Aber psychologisch empfinde ich eine ungeheure Erleichterung. Bislang wurden Schwule kriminalisiert und mussten jederzeit fürchten, von Polizisten oder Gangstern bedroht und um Geld erpresst zu werden.“ Raj Rao hat es am eigenen Leibe erlebt (siehe Kasten). Falls das Höchste Gericht und die Regierung dem Urteil zustimmen, können sich Lesben und Schwule künftig straffrei zu ihrer Sexualität bekennen. Doch Raj Rao ist nicht euphorisch: „Die juristische Diskriminierung mag damit hoffentlich bald ein Ende finden. Viel schwieriger aber ist es, die Einstellung der Gesellschaft gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe zu ändern. Vorurteile und Vorbehalte gegen Lesben und Schwule sitzen tief“, meint der Schriftsteller und Aktivist.

In Indien findet Homosexualität nur im Verborgenen statt. Nur wenige Schwule und Lesben vermögen sich wie Raj Rao dem sozialen Druck zu entziehen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. So führen die meisten ein Doppelleben als brave Familienoberhäupter mit gelegentlichen gleichgeschlechtlichen Liebhabern. Als Treffpunkte dienen abgeschiedene Parks, stinkige öffentliche Toiletten, Fitness-Clubs und Fiseursalons. In dem Riesenland gibt es nur eine Handvoll Homobars. Den Wohlhabenden steht auch das Internet als Kontaktbörse zur Verfügung.

Schwul? Aber bitte nicht in der Öffentlichkeit

Raj Rao hat Kurzgeschichten, Theaterstücke und den Roman „The Boyfriend“ in englischer Sprache veröffentlicht. In seinem jüngsten Buch, „Whistling in the Dark ...

„In Indien ist der Einfluss von Religion und Tradition viel stärker als im Westen“, erklärt Bindumadhav Khire, ein schwuler Aktivist und HIV-Berater. „Auch der Familiensinn ist sehr ausgeprägt bei uns, und das größte Problem vieler Homos lautet: Wie sag’ ich’s meinen Eltern? Die meisten hadern mit ihrer Homosexualität.“

Das Urteil zum Strafartikel 377 hat die Büchse der Pandora geöffnet. Fundamentalisten aller Religionsgemeinschaften verurteilen homophilen Sex und kritisieren die jüngste Liberalisierung. Der Yoga-Guru Ramdev und die Christliche Apostolische Kirchenallianz haben sogar Widerspruchsklage eingereicht. Viele Orthodoxe bezeichnen Homosexualität als „gegen die natürliche Ordnung“ gerichtet und übernehmen damit exakt die Wortwahl von Artikel 377. Andere halten Homosexualität für eine Krankheit, die tunlichst zu heilen sei. Hartnäckig hält sich auch der Glaube, Homosexualität sei ein Import aus dem angeblich moralisch verkommenen Westen. „Dabei gibt es Zeugnisse von Homoerotik aus dem alten Indien“, sagt Raj Rao. „Das weltberühmte Kamasutra zum Beispiel, eine mittelalterliche Sexuallehre, erwähnt homosexuelle Praktiken. Die nordindische Liedform Ghazal war ursprünglich ein schwules Liebeslied. Und auf den berühmten erotischen Tempelfresken in Khajuraho und Konarak sind auch lesbische Paare zu erkennen.“

Laut den vom Hohen Gericht in Neu-Delhi zitierten offiziellen Zahlen gibt es 2,5 Millionen Schwule und einige hunderttausend Lesben in Indien. Aktivisten halten das für eine grobe Unterschätzung. Laut Schätzungen liegt der Bevölkerungsanteil von Schwulen und Lesben weltweit bei drei bis fünf Prozent; in westlichen Ländern scheinen es oft mehr zu sein, weil sie sichtbarer sind. In Indien kommt dazu noch das sogenannte dritte Geschlecht, die traditionell anerkannten und kulturell, aber nicht sozial integrierten Transsexuellen, Hijra oder Jotka genannt. Wenn der Bevölkerungsanteil dieser drei Gruppen zusammen bei rund 5 Prozent liegt, leben unter Indiens 1,2 Milliarden Einwohnern rund 60 Millionen nicht Heterosexuelle.

Die soziale Stigmatisierung und die Kriminalisierung durch Artikel 377 haben es bislang unmöglich gemacht, eine homosexuelle Identität zu leben, meint Raj Rao. „Wir Inder sind nicht sehr individualistisch. Wir wollen dazugehören, Teil der Gemeinschaft sein. Die wenigsten können den Preis bezahlen, den eine Absonderung durch offenes Schwulsein fordert: Ausschluss aus der Familie, kein Kontakt mehr zu Freunden und Verwandten, Verlust des Arbeitsplatzes. Du wirst isoliert, entfremdet, im Extremfall enterbt.“ Eine große Mehrheit der Homosexuellen passe sich an, heirate und gründe eine Famlie, erklärt Rao. „Wir sind gay und straight zugleich – schwul und gleichzeitig heterosexuell. Es gilt zunächst die Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen, dein Privatleben ist eine andere Sache.“

In Indien sind die Grenzen zwischen hetero und homo eher fließend. Raj Rao definiert sich nicht gerne als „gay“, sondern als MSM (men having sex with men). Kategorien wie schwul oder lesbisch, wie sie im Westen gebräuchlich sind, passen seiner Ansicht nach nicht auf indische Verhältnisse. Aktivisten benutzen die neue Formel LGBT, die alle sexuelle Minderheiten umfasst: lesbisch, schwul (gay), bisexuell und transsexuell.

Die doppelte Identität, zu der sich die meisten Homosexuellen gezwungen sehen, fordert Opfer. Ein schizophrenes Sexualleben, ständige Heimlichtuerei, hastiger Verkehr in unhygienischer Umgebung und ein Leben am Rande der Kriminalität addieren sich zu schweren physischen und psychischen Belastungen. Die Zahl der HIV-Infizierten ist unter Schwulen außerordentlich hoch.

Mehr als die Hälfte seiner Klienten sei  selbstmordgefährdet, sagt der Aids-Berater Bindumadhav Khire. Mitten im Rotlichtviertel der Industriestadt Pune, zwischen grell geschminkten Straßennutten und finster dreinblickenden Zuhältern, betreibt er das Büro des Samapathik Trust, der einzigen schwulen Aids-Beratung in der 4-Millionen-Stadt. Khire und seine Kollegen bieten persönliche Konfliktberatung, Aids-Prävention sowie eine Telefon-Hotline an. „Wir verteilen kostenlos Kondome, informieren über Safer-Sex-Praktiken und ermuntern unsere Klienten, einen Aids-Test zu machen“, sagt Khire, der vier Jahre lang als Software-Ingenieur in den USA gearbeitet hat, bevor er sich entschloss, für Schwule in seiner Heimatstadt aktiv zu werden. „Die meisten Männer, die zu uns kommen, wünschen, wieder ,normal‘ zu werden. Wir bemühen uns, sie mit ihrer Orientierung zu versöhnen.“ Während wohlhabende Schwule über eigene Mittel und Wege verfügen, benötigen Angehörige der unteren, armen Bevölkerungsschichten dringend Beratung. Khire: „Viele besitzen keine Schulbildung und berufliche Qualifikation. Daher verfügen sie auch kaum über ein Gefahrenbewusstsein und infizieren sich sehr leicht mit dem HI-Virus.“

Ein großer Teil von Khires Klientel gehört zur Minderheit der Hijras, denn viele Transsexuelle arbeiten als Prostituierte. Ihre Gemeinschaft, die landesweit auf mehrere hunderttausend Menschen geschätzt wird, hat im Gegensatz zu Schwulen und Lesben einen festen Platz in der traditionellen Sozialordnung. „Man sagt ihnen übernatürliche Kräfte nach, daher werden sie mit Respekt, aber auch mit Argwohn und Spott betrachtet“, erläutert Khire. „Ihre traditionelle Rolle ist, Brautpaare und Neugeborene zu segnen. Dafür erhalten sie ein Trinkgeld. Die meisten tragen Saris, also Frauenkleider, und viele sind kastriert. Der Dienst auf Hochzeiten und Geburtstagen kann sie heutzutage aber kaum ernähren, daher sind viele in der Prostitution tätig, betätigen sich als Kleindiebe und Bettler.“

Es erscheint als Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die tödliche Bedrohung durch das HI-Virus die wenigen schwulen Selbsthilfegruppen erst möglich gemacht hat. Der Samapathik Trust etwa wird ausschließlich aus Mitteln der amerikanischen Gates-Stiftung finanziert. „Ohne Aids wäre der Artikel 377 wohl nicht gestrichen worden“, meint der Aktivist. „Wir stehen vor großen Problemen, etwa bei der kostenlosen Verteilung von Kondomen, weil die Zielgruppe praktisch nur im Untergrund existiert. Ohne ein gewisses Maß an Offenheit kann es keinen Erfolg im Kampf gegen die Immunkrankheit geben“, konstatiert Bindumadhav Khire.

Die indische Homo-Bewegung steckt noch in den Kinderschuhen. Die Kriminalisierung hat sie bislang daran gehindert, ihre Anliegen öffentlich zu machen. Nach dem Urteil des Hohen Gerichts in Neu-Delhi beschäftigen sich nun die obersten Richter des Landes mit der umstrittenen Vorschrift. Für Mitte September hat der Supreme Court Stellungnahmen aller Beteiligten, also auch der Regierung erbeten. Wann die Richter endgültig über das Schicksal des antiquierten Paragraphen urteilen werden, steht in den Sternen. Das Gerichtsverfahren markiert jedoch den Beginn einer neuen sozialen Bewegung in Indien, die erstmals das Thema Sexualität in die Öffentlichkeit trägt. Lesben und Schwule werden in Zukunft selbstbewusster auftreten und Gleichbehandlung im Familien- und Steuerrecht fordern. Raj Rao hofft, dass damit das Tabu Sexualität aufweicht und die indische Gesellschaft freiheitlicher wird.

 

erschienen in Ausgabe 10 / 2009: Homosexualität: Akzeptiert, verdrängt, verboten
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