Bäume pflanzen für die Nation

Ariel Sophia Bardi

Samvel Ghandilyan, der Manager einer Baumschule in Südarmenien, begutachtet die Setzlinge.

Armenien
In Armenien engagieren sich seit Jahren Menschen für Aufforstung im Land. Die neue Regierung verspricht nun zehn Millionen neue Bäume in nur einem Jahr – und lässt zugleich die größten Verursacher der Waldzerstörung gewähren. 

Paroujr Sewak liegt im Süden Armeniens im trockenen und baumlosen Niemandsland zwischen dem Land und Aserbaidschan. Das Dorf nahe der Grenze zur Türkei und dem Iran entstand 1978 aus ein paar von den Sowjets errichteten Häusern. Davor zogen hier aserbaidschanische Schäfer mit ihren Herden umher; erst das vorgeschobene Dorf sorgte dafür, dass das Land genauer abgegrenzt wurde.

Im Jahr 1988 brach zwischen Armenien und Aserbaidschan ein sechs Jahre währender Krieg über Bergkarabach auf. Diese Region, die auf dem Gebiet von Aserbaidschan liegt, historisch zu Armenien gehört und eine armenische Bevölkerungsmehrheit hat, wollte sich 1988 Armenien anschließen und erklärte sich 1991 für unabhängig. Zur selben Zeit führte die Auflösung der Sowjetunion dazu, dass die Landkarte der Region neu gezeichnet wurde. Die Kämpfe ebbten schließlich ab und äußerten sich bei Paroujr Sewak nur noch im täglichen Geknatter aserbaidschanischer Scharfschützen. 

Das Dorf benötigte mehr als ein paar alte Gebäude, um seinen armenischen Status glaubhaft zu machen. „Wer Anspruch auf Land erhebt, kann sich nicht mit einem Grenzschild begnügen. Man muss das Land bearbeiten. Man muss Bäume pflanzen“, sagt mir Edik Stepanyan an einem sonnigen Nachmittag im Oktober 2019. Der Bürgermeister des Dorfes ist vor 40 Jahren hierher gezogen – aus der Stadt Ararat, die nach jenem Berg benannt ist, der den Armeniern heilig ist und heute auf türkischem Boden liegt.

Autorin

Ariel Sophia Bardi

ist Journalistin und Fotografin in Italien. Sie hat in zahlreichen Medien der USA und anderer Länder publiziert.
Tatsächlich werden hier viele Bäume gepflanzt. Auf der einen Seite der Durchfahrtsstraße läuft ein hoher Erdwall durch die Wüstenebene, der die Dorfbewohner vor den Kugeln der Aserbaidschaner schützt. Auf der anderen Seite stoßen kleine Bäumchen durch den roten, ausgedörrten Boden. In fünf oder sechs Jahren werden die rund 5000 grünen Setzlinge Schatten spenden: Hier wächst ein Gemeindeforst heran. 

Im nahen Wald von Khosrov, einem Naturschutzgebiet, leben Bären, Wölfe, Steinböcke und wenige kaukasische Schneeleoparden, die auf der Liste der gefährdeten Arten stehen. Doch das sonnenverbrannte Paroujr Sewak, von keinem Fluss oder Bach durchzogen, ist praktisch baumlos. Der Bürgermeister hofft, dass der neu angelegte Forst das harte Klima mildert und dem Dorf zudem hilft, seinen Anspruch auf das gefährdete Stück Grenzland zu untermauern. „Wir müssen immer auf der Hut sein“, sagt Stepanyan. „Entweder wir halten diese Grenzen oder wir verlieren alles.“ Außerdem, fügt er hinzu, schaffe man sich so „einen paradiesischen Ort“.

Der Baumbestand soll bis 2050 verdoppelt werden

Stepanyan ist einer der vielen Armenier, die sich bemühen, die Landschaft umzugestalten. Eine friedliche Revolution hat 2018 die korrupte Oligarchie hinweggefegt und die neue Reformregierung unter dem früheren Journalisten Nikol Paschinjan hat es zum Ziel erklärt, bis 2050 den Baumbestand des Landes zu verdoppeln – auch als Teil von Armeniens Zusagen unter dem Pariser Klimaabkommen.

Der Plan, den das Comedian-Duo Narek Margaryan und Sergey Sargsyan ironisch „Make Armenia Green Again“ getauft hat, soll nicht lediglich eine Umweltschutzmaßnahme sein gegen den Klimawandel, den Verlust an Biodiversität und die Ausbreitung der Wüste. Mehr noch werden Baumpflanzungen in Armenien als Maßnahme des kulturellen Überlebens gesehen.
Seit 1994 führt das gemeinnützige Armenia Tree Project (ATP) mit Sitz in Massachusetts, eine nichtstaatliche Organisation von Armeniern und armenischstämmigen Amerikanern, die Aufforstung an. Baumschulen, Gewächshäuser, Gemeindeforsten und Pflanzstätten des ATP findet man praktisch überall in Armenien. Die neuen Wälder sind oft zugleich Gedenkstätten: Sie tragen den Namen von Überlebenden des Völkermords an den Armeniern im und nach dem Ersten Weltkrieg oder sind patriotischen Themen gewidmet.

Auf der ersten Gipfelkonferenz des Landes zum Thema Wald im Oktober 2019, den das ATP gemeinsam mit der American University of Armenia veranstaltete, kündigte Paschinjan an: Als erster Schritt bei der Verdopplung des Waldbestandes sollten bis zum 10. Oktober 2020 zehn Millionen Bäume gepflanzt werden; die Zahl entspricht grob der der Armenier in der Welt. Wie ehrgeizig dieses Ziel ist, zeigt sich schon daran, dass das ATP nach 25-jähriger Tätigkeit die Pflanzung von insgesamt 6 Millionen Bäumen feiern konnte.

Doch Wiederaufforstung, die oft als Mittel zur Bewältigung des Klimawandels gilt, ist eine komplizierte Sache. Sie kann die Luftverschmutzung reduzieren, Regenfälle erhöhen und klimaschädliche Kohlenstoffemissionen binden. Und sie ist ein mächtiges Symbol – nicht nur für den Schutz der Grenzen, sondern auch für die Reinhaltung der Luft und die Stärkung des Nationalbewusstseins. Doch auf Symbole zu setzen birgt stets die Gefahr, einfache und schnelle Lösungen für unübersichtliche, komplexe Probleme zu fördern – so wie man oft schnurgerade Reihen einer Baumart pflanzt, um verlorene Natur zu ersetzen.

Diese armseligen Pseudowälder binden weniger Kohlenstoff­emissionen als naturnahe Wälder und sind für Waldbrände anfälliger. „Wie kann man diese Baumplantagen mit Wäldern vergleichen, wie wir sie noch haben, aber jetzt verlieren?“, sagt Karen Manvelyan, die Leiterin der Naturschutzorganisation WWF Armenia, im Herbst 2019 in Eriwan. „Das sind reine Showprojekte.“

In der Sowjetzeit galt die Natur generell als Staatseigentum. Holz wurde aus Russland importiert. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 stürzte Armenien dann in eine schwere Energiekrise, und die Einwohner zogen in die Wälder, um Feuerholz zu organisieren. Die Gründerin von ATP, Carolyn Mugar, die in Eriwan lebte, hat diese Plünderung des Baumbestands erlebt; das war der Anstoß für die Gründung der Organisation. „Wir haben heimlich Holz gefällt, wo es verboten war, sogar in Nationalparks“, sagt die 53-jährige Angela Minasyan, die nun in einer Baumschule des ATP arbeitet. „Wir hatten immer ein schlechtes Gewissen dabei“, fügt sie hinzu. „Deshalb pflanzen wir jetzt Bäume.“

Der Erfolg der Neupflanzungen ist schwer vorherzusagen

In Armenien sind derzeit elf Prozent der Fläche von Wald bedeckt, im 17. und 18. Jahrhundert war es doppelt so viel. Neben der Energiekrise nach dem Fall der Sowjetunion haben auch industrieller Holzeinschlag und Bergbau zu dem großen Waldverlust beigetragen.

Der Erfolg der Neupflanzungen ist schwer einzuschätzen. In der Nähe des Dorfes Margahovit im Norden Armeniens, nicht weit vom stark bewaldeten Nationalpark Dilijan, schmiegt sich die Baumschule Mirak an nebelverhangene Berge. Auf den Keimtischen ihrer Gewächshäuser werden bis zu einer Million Setzlinge gezogen, darunter Eschen, Kiefern und Holzäpfel. ATP pflanzt grundsätzlich nur einheimische Baumarten. Die Setzlinge wachsen im Freien heran, damit sie sich an die kalten Winter gewöhnen.

Trotzdem geht fast die Hälfte nach dem Auspflanzen ein. „Für uns ist es ein Erfolg, wenn wir 60 Prozent durchbringen“, sagt der ATP-Forstmanager Navasard Dadyan. „Bäume pflanzen ist der einfache Teil. Schwieriger ist es, dafür zu sorgen, dass sie durchkommen. Das wird bei zehn Millionen Bäumen nicht leichter“, fügt er lachend hinzu.

Anfang Januar hat ATP verhaltenes Lob für Paschinjans kühne Ankündigung geäußert – und viele Bedenken. Die Organisation warnte davor, nicht einheimische Arten anzupflanzen, die das ökologische Gleichgewicht noch mehr stören könnten, und empfahl Mischwälder anstelle der bislang bevorzugten Monokulturen aus Kiefern.

Doch der ehrgeizige Plan der Regierung Paschinjan wirft nicht bloß die Frage auf, ob hier Quantität über Qualität gestellt wird. Er ignoriert auch einen der Hauptantreiber der Entwaldung in Armenien: den Abbau von Mineralien. Für die Tagebaugruben wie für Zufahrtsstraßen und die dazugehörige Infrastruktur werden große Waldflächen gerodet.

Umweltschützer beklagen, dass die neue Regierung zu wenig unternimmt, um diesen einträglichen, korruptionsgeplagten Industriezweig zu zügeln. Sie hat sogar grünes Licht für den Bau einer 300 Millionen Dollar teuren Goldmine im Kurort Dschermuk gegeben, der am Ufer von Armeniens größtem Süßwasserreservoir liegt, dem Sewansee. Armenien besitzt eine reichhaltige Flora und Fauna, darunter 300 Tier- und 450 Pflanzenarten, die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen. Doch Bergbau zerstört Lebensräume und hinterlässt giftige Schlammablagerungen – und der Sewansee ist ein Naturschutzgebiet.

Der Beamte, der die Gruben inspizierte, wurde entlassen

Die neue Regierung ist mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen, die Oligarchen zu entmachten und das alte Regime zu beseitigen. Sie nutzt stark die sozialen Medien, um ihre Transparenz zu demonstrieren. 

Diese Offenheit zeigt sich auf allen Ebenen der Regierung. Bevor ich mich zwischen zwei Podiumsveranstaltungen auf dem Forest Summit in Eriwan 2019 mit dem stellvertretenden Umweltminister Vardan Melikyan zusammensetzte, eilte ein Mann im Anzug herbei und murmelte ihm etwas anscheinend Wichtiges ins Ohr. Ich trat beiseite. „Bleiben Sie ruhig hier“, sagte Melikyan. „Wir haben keine Geheimnisse.“ Doch die Stimmung trübte sich, als ich den Tagebau ansprach. „Kein Kommentar“, hieß es auf einmal. „Vielleicht müssen die Menschen ein wenig Geduld haben“, sagte Melikyan schließlich und erwähnte rechtliche Komplikationen.

„Eigentlich ist es gar nicht kompliziert“, entgegnet Artur Grigoryan, ein Umweltanwalt, der im Auftrag der Regierung Gruben inspiziert hat, aber dann gefeuert wurde. Im Sommer 2019 hatte er nach monatelanger Untersuchung dem Umweltministerium gemeldet, dass er einen auf der roten Liste stehenden Schmetterling gefunden hatte; damit wäre Bergbau in Dschermuk eine Straftat. Ähnliche Funde machte er in Kadscharan, einem noch aus der Sowjetära stammenden, mittlerweile privatisierten Kupfertagebau im Süden Armeniens, der als Verursacher von Schwermetallverschmutzung gilt.

„Ich habe mit dem Premierminister gesprochen und ihm die Situation erläutert“, sagte Grigoryan. Dann flog Paschinjan in die Schweiz, um auf dem Weltwirtschaftsforum 2019 um Wirtschaftshilfe für Armenien zu werben. „Er hat mich von Davos aus gefeuert“, sagte Grigoryan.

Betreiber der Minen in Armenien sind Unternehmen in Offshore-Finanzplätzen wie Lydian International, die die Besitzverhältnisse verschleiern. Das macht es schwer zu durchschauen, wer welchen Teil der Profite einstreicht. „Niemand weiß, welchen Einfluss sie auf die Regierung haben“, erklärt Grigoryan. Manvelyan glaubt, der riesige Wiederaufforstungsplan solle vor allem von der Kritik am ungehemmten Bergbau ablenken. 

Zurück im Dorf Paroujr Sewak blickt der Bürgermeister mit Wohlwollen auf den heranwachsenden Gemeindeforst, dessen Bäumchen eine gerade Linie im Sandboden markieren. Er erinnert an die Übergriffe auf armenisches Territorium von Nachbarn aller Seiten, vor allem von der Türkei. „Wir können nicht weiter zurückweichen. Wenn man alte und neue Karten von Armenien vergleicht, sieht man, wie wenig Territorium uns geblieben ist“, klagt Stepanyan. 

Die zarten, spärlich belaubten Baumsetzlinge, die hier im Dreiländereck zwischen der Türkei, dem Iran und Aserbaidschan gedeihen, sind kaum 30 Zentimeter hoch. Doch es wird nicht lange dauern, bis sie lange Schatten werfen.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2020: Kino im Süden
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