Entwicklungszusammenarbeit allein kann die Armut nicht beseitigen
Gespräch mit Eckhard Deutscher
Die Entwicklungshilfe ist unter Beschuss geraten. Aber viele Einwände sind überzogen, weil sie die Wirkung der Hilfe überschätzen. Andererseits muss die internationale Entwicklungszusammenarbeit effizienter werden; die Geberagenturen müssen sich stärker untereinander abstimmen. Und die Empfänger müssen stärker deutlich machen, welche Art von Hilfe sie von welchen Gebern wollen.
Die Kritik an der Entwicklungshilfe ist in jüngster Zeit schärfer geworden. Ist sie berechtigt?
Ich vermeide den Begriff „Entwicklungshilfe“, weil er überhaupt nicht mehr in die Welt passt. Er suggeriert, es gehe darum, dass die Entwicklungsländer Anschluss an das Niveau der Industrieländer kriegen müssten. Es geht aber um Entwicklungszusammenarbeit und um „ownership“ – also darum, die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer zu unterstützen. Wir wissen doch längst, dass eine von außen aufgezwungene Entwicklung nichts gebracht hat und auch in Zukunft nichts bringen wird.
Die Kritiker sagen, gerade wo viel Entwicklungszusammenarbeit betrieben wurde – in Afrika -, sei die Armut nicht viel kleiner geworden. Und wo die Armut zurückgegangen sei wie in Asien, habe das nichts mit Entwicklungszusammenarbeit zu tun.
Es ist doch klar, dass Entwicklungszusammenarbeit allein nicht Armut beseitigen kann. Die Kritiker haben offenbar noch nie etwas von politischer Kohärenz gehört – also davon, dass auch andere Politikbereiche wie Landwirtschaft, Gesundheit oder Sicherheit entwicklungsorientiert gestaltet sein müssen. Das ist ja eigentlich nichts Neues. Vor diesem Hintergrund an der Entwicklungszusammenarbeit herumzumäkeln, sie habe dieses oder jenes nicht geleistet, ist kleinkrämerisch. Es mangelt in den Industrieländern grundsätzlich an entwicklungsorientierter Regierungsführung, die darauf abzielt, globalen Risiken wirksam zu begegnen.
Was halten Sie von dem Vorwurf, die Entwicklungszusammenarbeit sei zum Selbstzweck verkommen und den beteiligten Organisationen gehe es vor allem um das eigene Überleben?
Ja, es gibt eine „Entwicklungsindustrie“. Ich erinnere aber daran, dass Graham Hancock bereits Ende der 1980er Jahre ein Buch über die „Händler der Armut“ geschrieben hat – eine sehr drastische Kritik der entwicklungspolitischen Strukturen, die sich verselbstständigt hätten und permanent selbst reproduzierten. Darin steckt natürlich das Problem, dass es zu viele Organisationen gibt. In Nicaragua sagte mir vor drei Jahren der damalige Präsident Enrique Bolaños, sein Land sei das Disneyland der Geber. Es gebe über 40 internationale staatliche Entwicklungsagenturen und 150 nichtstaatliche Organisationen, jede Woche müsse die Regierung zwei bis drei internationale Missionen empfangen. Und dann beklagten die selben Geber, der Regierung fehle es an Kapazitäten, zusätzliche Entwicklungshilfe aufzunehmen. Es klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, was die Eigenverantwortlichkeit der Entwicklungsländer und die Rationalität von Entwicklungsinvestitionen angeht. Darüber bin ich mir im Klaren. Es gibt aber Unterschiede zwischen einzelnen Entwicklungsländern.
Wie ließe sich die Zahl der Entwicklungsorganisationen verkleinern?
Bloße Appelle reichen natürlich nicht. Die Eigeninteressen der Organisationen spielen eine große Rolle. Aber die Europäische Union hat mit ihrem Vorschlag, dass in jedem Land nicht mehr als drei Geber in je drei Sektoren tätig sein sollen, einen wichtigen Schritt unternommen. Abgesehen davon darf man nicht nur auf die Geberländer schauen. Auch die Entwicklungsländer haben eine große Verantwortung, wenn es darum geht, die Entwicklungspolitik zu verschlanken und effektiver zu machen. Indien hat es vorgemacht, indem es genau festgelegt hat, mit welchen Gebern es noch kooperieren will und mit welchen nicht. Die Entwicklungsländer müssen definieren, von wem sie welche Art von Hilfe in welchen Bereichen wollen. Dann könnte so etwas wie Konkurrenz zwischen den Gebern entstehen.
Indien ist ein großes und mächtiges Land, das sich einen solchen Schritt vielleicht leisten kann.
Eritrea hat es vor einigen Jahren auch gemacht. Richtig ist, dass es nicht viele solche Beispiele gibt, aber Eigenverantwortung bedeutet auch, dass die Entwicklungsländer Kapazitäten in ihren Regierungen aufbauen, solche Entscheidungen zu treffen.
Im Rahmen der so genannten Paris-Agenda für mehr Effektivität in der Entwicklungszusammenarbeit versuchen die Geber seit einigen Jahren, sich stärker untereinander abzustimmen. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) ist kürzlich in einer Bilanz zu dem Schluss gekommen, dass das häufig zu noch mehr Verwaltungsaufwand führt. Erst müsse die Zahl der Geber in einem Land reduziert werden, dann erst könne Harmonisierung gelingen. Sehen Sie das auch so?
Ich denke, es kommt vor allem auf den Willen der Geber an. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie bestrebt sind, bei der Harmonisierung Fortschritte zu machen. Kritik ist gut, aber man darf auch nicht vergessen, dass der Paris-Prozess erst drei Jahre alt ist. Gemessen an diesem kurzen Zeitraum und an der Vielzahl der beteiligten Institutionen gibt es keinen Grund, pessimistisch zu sein.
Noch einmal: Das DIE sagt, unter den gegebenen Bedingungen sei Harmonisierung der falsche Ansatz.
Ich glaube, zunächst die Zahl der Institutionen reduzieren zu wollen, ist politisch nicht realistisch. Wir müssen mit den gegebenen Bedingungen umgehen, und dazu gehören auch die – legitimen – Interessen der Geber. Wenn ich mir allein anschaue, wie kompliziert es ist, die Zahl der deutschen Durchführungsorganisationen zu verkleinern. Die lassen sich nicht einfach so schließen, da geht es auch um Arbeitsplätze und Perspektiven. Noch komplizierter wird es dadurch, dass die Geber bisher nur in Europa bestrebt sind, die Zahl der Geberagenturen zu reduzieren. Die asiatischen Geber im DAC wie Japan oder Australien stehen dem eher skeptisch gegenüber.
In der Öffentlichkeit geht es häufig vor allem um die Frage, wer wie viel Entwicklungshilfe leistet. Sind Sie mit dieser Fokussierung auf die Quantität glücklich?
Es geht ja mehr und mehr auch um die Qualität. Die Frage, wie die Wirksamkeit von Entwicklungszusammenarbeit gemessen werden kann, wird immer wichtiger. Der neue DAC-Bericht versucht zum Beispiel, anhand von transparenten Kriterien zu messen, in welchen Bereichen Erfolge erzielt wurden und in welchen nicht. Ich habe vor, dieses Thema im DAC weiter voranzubringen – genauso übrigens wie das Thema Kohärenz.
Der DAC formuliert die Kriterien dafür, welche Ausgaben die Geber als „offizielle Entwicklungshilfe“ (ODA) verbuchen dürfen. Ist die geltende Definition von ODA noch angemessen?
Darüber wird permanent diskutiert. Zum Beispiel gibt es immer wieder Debatten darüber, inwieweit auch bestimmte sicherheitspolitische Ausgaben oder Verwaltungskosten als Entwicklungshilfe angerechnet werden dürfen. Ich muss als DAC-Vorsitzender berücksichtigen, welche Vorstellungen die OECD-Mitgliedsländer haben, und dann offen mit ihnen darüber diskutieren. Mein Vorgänger Richard Manning hat in seinem letzten DAC-Bericht versucht zu differenzieren zwischen dem, was als Entwicklungshilfe verbucht wird, und dem, was in den Entwicklungsländern tatsächlich ankommt. Dass er das einmal transparent dargestellt hat, finde ich wichtig.
Nichtstaatliche Organisationen haben das auch schon vorgerechnet. Die Regierungen verweisen dann immer auf die gültige Definition von Entwicklungshilfe.
Die NGOs legen zu Recht den Finger auf so manche Wunde. Andererseits lässt sich aus ihrer Position heraus auch bequem reden. Es ist einfach, immer mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit zu fordern. Wir wissen aber, wie schwierig es ist, zusätzliche Mittel zu mobilisieren – sogar dann, wenn es entsprechende politische Beschlüsse und Zusagen auf internationaler Ebene gibt.
Die Anrechenbarkeit von Schuldenerlassen als Entwicklungshilfe ist besonders strittig. Was sagen Sie zu der Forderung von NGOs, sie dürften nicht als Entwicklungshilfe verbucht werden?
Der jüngste DAC-Jahresbericht rechnet vor, dass die gesamte Entwicklungshilfe 2006 um knapp zehn Prozent geringer ausgefallen wäre, wenn man die Schuldenerlasse für Nigeria und Irak herausgerechnet hätte. Es ist wichtig, das transparent darzustellen und darüber zu diskutieren, inwieweit es sich bei Entschuldungen um einen echten Ressourcentransfer in Entwicklungsländer handelt. Andererseits will ich ausdrücklich betonen, welche Bedeutung Schuldenerlasse haben, um zum Beispiel die Kreditwürdigkeit der betroffenen Länder wiederherzustellen oder ihre Zahlungsbilanzen zu verbessern.
Was wollen Sie unternehmen, um neue Geber wie China stärker in die DAC-Strukturen einzubinden?
Ich habe etwas gegen den Begriff „einbinden“. Wer sich einbinden will, will sich fesseln lassen. Die neuen Geber haben ihre eigenen Vorstellungen. Ich bin aber sehr froh darüber, dass zum Beispiel China sein Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem DAC deutlich gemacht hat. Peking ist sehr daran gelegen, dass in Afrika stabile soziale und politische Verhältnisse herrschen. China ist an einer nachhaltig angelegten Entwicklungszusammenarbeit interessiert und weiß, dass es in dieser Hinsicht von den Erfahrungen der alten Geber etwas lernen kann.
Es heißt doch aber immer, China kümmere sich nicht um die Qualität der Regierungsführung in Ländern, mit denen es entwicklungspolitisch kooperiert.
Aufgrund meiner bisherigen Erfahrung mit China gehe ich davon aus, dass es an regionaler sozialer und politischer Stabilität interessiert ist. Wann immer China kritisiert wird, muss man genau hinsehen, mit welchen Länder es im Einzelfall zusammenarbeitet und wie die Umstände sind. Ich werde ganz offen in Gespräche mit Peking gehen.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
Eckhard Deutscher leitet seit Januar den Entwicklungshilfeausschuss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Davor war er sechs Jahre lang deutscher Exekutivdirektor der Weltbank in Washington.
Der Entwicklungshilfeausschuss der OECD
1960 schlossen sich acht Länder und die Kommission der Europäischen Gemeinschaft zur „Gruppe für Entwicklungshilfe“ zusammen. Ein Jahr später wurde daraus der Entwicklungshilfeausschuss (Development Assistance Committee, DAC) der 1961 gegründeten Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Der DAC ist das zentrale Forum der größten Geberländer für Diskussionen über ihre Entwicklungspolitik. Ihm gehören heute 22 Mitgliedsländer sowie die EU-Kommission an. Er veröffentlicht unter anderem Studien zu entwicklungspolitischen Fragen und gibt den Gebern Empfehlungen für ihre Politik – zum Beispiel für Budgethilfe oder Hilfe in fragilen Staaten.
Im DAC verständigen sich die Mitglieder auch darauf, was als öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) angerechnet werden kann. Aus den Meldungen der Mitglieder erstellt der DAC jährlich Statistiken zur ODA und veröffentlicht sie. Dazu gehören die ODA-Quoten, die angeben, wie viel Hilfe die Mitglieder im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft leisten. Im vergangenen Jahr lagen die Quoten zwischen 0,16 Prozent in den USA und 0,95 Prozent in Norwegen.
Der DAC-Vorsitzende koordiniert die Arbeit des Ausschusses und fasst die Ergebnisse im jährlichen Bericht über die Entwicklungshilfe zusammen. Zu den wichtigsten DAC-Publikationen zählen außerdem die Peer Reviews. Das sind Prüfberichte, die jeweils zwei Mitglieder und das DAC-Sekretariat über die Entwicklungszusammenarbeit eines dritten Mitglieds anfertigen. Jeder Geber wird im Rahmen dieses Verfahrens alle vier bis fünf Jahre untersucht und erhält Reformvorschläge. Deutschland beispielsweise ist schon in mehreren Peer Reviews geraten worden, die Zahl seiner Durchführungsorganisationen zu verkleinern.
Seit einigen Jahren befasst sich der DAC verstärkt mit der Frage, wie die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe erhöht werden kann. 2005 haben die Mitglieder dazu in Paris eine Erklärung mit konkreten Zielvorgaben verabschiedet. Im September dieses Jahres wird in der ghanaischen Hauptstadt Accra ein High-Level Meeting über die bisherigen Fortschritte beraten.
(ell)
www.oecd.org/dac
welt-sichten 5-2008