Unbequeme Wahrheiten

Paul Collier Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann Verlag C.H.Beck, München 2008, 255 Seiten, 19,90 Euro

Sein Buch solle zum Umdenken beitragen, lesbar sein und Spaß machen – die Ansprüche, die Paul Collier im Vorwort an sich selbst stellt, sind hoch. Der Wirtschaftsprofessor aus Oxford, der sich seit mehr als 35 Jahren mit der ökonomischen Entwicklung afrikanischer Staaten befasst, erfüllt sie auf rund 250 Seiten alle drei – die zwei ersten mehr, den letzten weniger. Denn es geht keineswegs um ein unterhaltsames Thema: Collier widmet sein Buch den 50 ärmsten Staaten der Erde. Ihnen zu mehr Wachstum zu verhelfen, ist für ihn die wahre Aufgabe der Entwicklungspolitik. „Ein Sumpf des Elends direkt neben einer Welt wachsenden Wohlstands ist schrecklich für die im Sumpf und gefährlich für seine Nachbarn“, betont der frühere Leiter der Weltbank-Forschungsabteilung.

Er analysiert zunächst vier Entwicklungsfallen, in denen die ärmsten Länder feststeckten: Bürgerkriege, Ressourcenreichtum, schlechte Regierungsführung sowie eine ungünstige geografische Lage – abgeschnitten vom Meer und umgeben von instabilen Nachbarn – behinderten ihr wirtschaftliches und damit auch ihr politisches und soziales Fortkommen. Seine Analyse belegt er mit einer Reihe wissenschaftlicher Studien, die er in einer klaren und verständlichen Sprache ohne Fußnoten zusammenfasst. Im zweiten Schritt betrachtet er Instrumente, die ein Entkommen aus den vier Fallen möglich machen könnten. Der Entwicklungshilfe stellt er ein zwiespältiges Zeugnis aus. Sie sei zwar „mehr Teil der Lösung als Teil des Problems“, doch in ihrer bisherigen Form, als Finanzhilfe und technische Zusammenarbeit, könne sie die ärmsten Länder nicht entscheidend voranbringen. Deshalb müsse sie dringend durch weitere Strategien ergänzt werden: durch militärische Interventionen, durch Gesetze und internationale Konventionen zur Verbesserung der Regierungsführung sowie durch eine veränderte Handelspolitik, die die ärmsten Länder auf dem Weltmarkt vorübergehend vor der Konkurrenz aus Asien schützt.

Collier spart nicht mit Kritik am bisherigen Umgang mit den ärmsten Ländern und ist sich bewusst, dass manche seiner Analysen und Forderungen Widerstand und Protest hervorrufen. Geschickt nimmt er Einwände aus dem „rechten“ und „linken“ Spektrum der Entwicklungszusammenarbeit vorweg und versucht, sie zu entkräften. Das gelingt ihm am treffendsten auf dem Feld seiner größten Expertise, der Wirtschafts- und Handelspolitik. Hier geraten seine Ausführungen streckenweise zu einer regelrechten Abrechnung mit der „Dummheit“ der Beteiligten. Zurückhaltung und Bescheidenheit zählen nicht zu Colliers hervorstechenden Eigenschaften. Das macht die Lektüre unterhaltsam, aber streckenweise auch anstrengend.

Trotz des düsteren Bildes, das er von den ärmsten Staaten zeichnet, und obwohl bislang viel zu wenig für die unterste Milliarde getan wurde, bleibt Collier optimistisch. Aus seiner langjährigen Zusammenarbeit mit afrikanischen Partnern weiß er, dass es auch in den ärmsten und korruptesten Staaten Menschen gibt, die den Mut zu Reformen aufbringen. Sie müssten gezielt unterstützt werden. An Entwicklungspolitiker sowie an die Organisationen der staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungshilfe appelliert Collier, überkommene Positionen zu überdenken. Die Bürgerinnen und Bürger der Industrieländer nimmt er ebenfalls in die Verantwortung. Ihre Pflicht sei es, sich über globale Zusammenhänge zu informieren, um sich gezielt engagieren und eine sinnvolle Entwicklungspolitik unterstützen zu können. Verwirklichen soll seine Vorschläge vor allem der Club der acht mächtigsten Industriestaaten, die G8. Ob sein Buch dort Gehör finden wird, ist offen; zu wünschen ist es ihm.

Gesine Wolfinger

welt-sichten 6-2008

 

erschienen in Ausgabe 6 / 2008: Welternährung
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