Mehr Arbeit, aber auch mehr Teilhabe für zurückgelassene Frauen

29. Juni 2023
Magdalena Rojo (Text) und Noel Rojo (Fotos)
Noel Rojo/TNH
Magats Ehemann wanderte aus dem Senegal nach Spanien aus, um bessere Arbeit zu finden, und Magat nahm zusätzliche Aufgaben an, um sich etwas dazuzuverdienen. Mit den Rücküberweisungen ihres Mannes und ihrem Einkommen kommen Magat und ihre Kinder einigermaßen über die Runden.
Migration
In ihrer Dokumentation „Frauen, die bleiben“ erzählen Magdalena und Noel Rojo die Geschichten von mehr als 70 Frauen aus Indien, Mexiko, Äthiopien, Senegal, Rumänien und der Slowakei, deren Männer ins Ausland gegangen sind, um Arbeit zu suchen.

Dieser Text ist zuerst auf Englisch bei „The New Humanitarian“  erschienen.

Über Migration zu schreiben, bedeutet meist, über Menschen zu schreiben, die ihre Heimat verlassen, weil sie fliehen müssen: vor Naturkatastrophen, Krieg und Gewalt, Armut, Unterdrückung, Korruption oder schlicht einer miserablen Staatsführung. Die Geschichten dieser Menschen sind zweifellos dramatisch. Doch die ihrer Angehörigen, die zurückbleiben, sind es nicht minder. Meist sind es Frauen, deren Bewegungsfreiheit durch soziale Normen und eng definierte Geschlechterrollen stark eingeschränkt ist. Über die vergangenen sechs Jahre haben wir regelmäßig mit mehr als 60 Frauen aus Indien, Mexiko, Äthiopien und dem Senegal gesprochen, deren männliche Angehörige das Land verlassen haben. Dabei haben wir erkannt, wie sehr sich auch ihr Leben als Zurückbleibende durch Migration verändert.

Wenn Männer auswandern, steigt zwar oft das Einkommen ihrer in der Heimat gebliebenen Familien. Aber da die Rücküberweisungen der Ausgewanderten häufig unter einer Vielzahl von Familienmitgliedern aufgeteilt werden, decken sie längst nicht immer den Bedarf ihrer Familien. Deswegen suchen Frauen, die zurückbleiben, vermehrt nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Einerseits belastet das oft ihren ohnehin schon anstrengenden Arbeitsalltag zusätzlich, andererseits gewinnen sie dadurch auch eine finanzielle Unabhängigkeit, die sie zuvor nicht hatten.

2018 trafen wir beispielsweise Magat vom Volk der Wolof in Ndiébène Gandiole, einem Küstendorf im Norden Senegals. Die Mittdreißigerin war mit Diop verheiratet, einem Fischer, dessen Fang angesichts wachsender chinesischer, russischer und europäischer Fischereiflotten vor der Küste stetig schrumpfte. Deshalb ging er 2006 nach Spanien, um Arbeit zu suchen. Fortan stellte sich auch Magat neuen Aufgaben. Sie kümmert sich um die Tiere und verkauft Nahrungsmittel: „Jeden Morgen um sieben, nachdem ich geputzt und gekocht habe, gehe ich zu meinem Laden an der Hauptstraße.“ Wenn es im Dorf etwas zu feiern gibt, flicht und schmückt sie den Frauen dafür die Haare. Das alles ist anstrengend, aber die Arbeit der beiden Eheleute hat der Familie erstmals ein stabiles Einkommen verschafft. Als wir Magat trafen, überwachte sie die Bauarbeiten ihres neuen Hauses.

Familien verschulden sich um Schlepper zu bezahlen

Wer Grenzen illegal ohne Visum überwinden will, wendet sich oft an Schmuggler, die für ihre Dienste Hunderte oder Tausende US-Dollar verlangen. Die wenigsten Familien können sich das leisten. Oft verschulden sie sich hoch, um ein Familienmitglied ins Ausland zu schicken. Sie hoffen, dass sie langfristig alle davon profitieren werden. Zunächst aber müssen die Frauen neue Arbeiten aufnehmen, um Kinder und Verwandte zu versorgen und die Schulden abzubezahlen. 

Der irreguläre Grenzübertritt ist oft kostspielig. Raquel aus Mexiko sagte 2017, dass ihr Mann Leo "immer noch den Kredit abzahlt, den wir von der Bank bekamen, als er beschloss, in die USA zurückzukehren". Sie nahm mehr Arbeit an, um den Kredit zu bezahlen.

So war es auch bei Raquel Cruz, die wir 2017 in der feuchten, hügeligen Region La Huasteca im mexikanischen Bundesstaat San Luis Potosí trafen. Ihr Ehemann Leo war in die USA gegangen und wieder zurückgekehrt, mehrere Male. „Er ist noch immer dabei, den Kredit zurückzuzahlen, den wir bei der Bank aufgenommen haben, als er sich letztlich entschloss, doch wieder in die USA zurückzukehren“, erzählte Raquel. Um Geld zu verdienen, kocht sie für die Lehrerinnen und Lehrer einer örtlichen Schule und sammelt mit Hilfe einer nichtstaatlichen Organisation Honig, um ihn zu verkaufen.

Wenn die Männer weg sind, müssen die Frauen anfangen zu arbeiten

Auch Flor Mateo aus San Marcos Tlapazola in Oaxaca, ebenfalls in Mexiko, sah sich mit einem Mal gezwungen, für Geld zu arbeiten. Ihr Ehemann verließ sie und die gemeinsame Tochter, als er in die USA ging. „Wenn ich nicht meinen Eltern zur Last fallen wollte, musste ich anfangen zu arbeiten und meine Tochter in die Betreuung zu geben“, sagte Flor 2017. Dennoch sei sie erleichtert, sagt sie, denn ihr Mann sei aggressiv und habe sie und die Tochter geschlagen. „Dass er sich entschloss, sein Glück in den Vereinigten Staaten zu suchen, war das Beste, was mir passieren konnte.“

Andere Frauen, die von ihren Männern verlassen wurden, und vor allem Frauen, deren Männer oder Söhne unter den Tausenden sind, die Jahr für Jahr auf der Reise verschwanden oder starben, sind verzweifelt. So auch Mama Lethay Kahsai aus dem Dorf Dega in Tigray, Äthiopien. Wir trafen die Mittfünfzigerin 2018, bevor der Krieg begann. Ihr Sohn war nach Saudi-Arabien ausgewandert – ein beliebtes Ziel für Äthiopier – und dort gestorben. Mama Lethay lebt seitdem von öffentlicher Fürsorge und humanitären Organisationen.

In Indien gelten Arbeitsmigranten als gute Partien 

In einigen Ländern betrachten Eltern junge Männer, die die Heimat auf der Suche nach Arbeit verlassen haben, als gute Partien für ihre Töchter. So auch in vielen Adivasi-Gemeinden Indiens. Pushpa Devi aus dem Dorf Salkal etwa wurde schon mit 15 Jahren von ihren Eltern mit einen Arbeitsmigranten verheiratet – ein Hochzeitsalter, das bei den Adivasi für Mädchen nicht ungewöhnlich ist.  

In San Luis Potosí, Mexiko dagegen hat die Arbeitsmigration dazu beigetragen, dass junge Frauen später heiraten als früher, erklärt die Anthropologin Nelly López. „Die Familien ermuntern sie dazu, erst etwas zu lernen und dann möglichst jemanden zu heiraten, der schon mal in den USA gelebt und gearbeitet hat.“ Ein solcher Mann habe oftmals nicht nur ein eigenes Haus, sondern könne auch kochen und seine Kleidung waschen.

Eine wichtige Motivation für Väter, auswandern, ist der Wunsch nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder. Für die zurückbleibenden Mütter, die vor Ort für ihre Kinder die Rolle von Mutter und Vater übernehmen müssen, ist ihre gewachsene Verantwortung für den Nachwuchs die allergrößte Herausforderung. 2017 trafen wir in der Isthmusregion von Oaxaca, Mexiko die fünfjährige Keyssy. Als sie zur Welt kam, war ihr Vater bereits in den USA. Als er von dort zurückkam, war sie drei Jahre alt und hatte sich daran gewöhnt, ihren Onkel „Vater“ zu nennen. Sie brauchte lange, um sich an die Anwesenheit ihres zurückgekehrten biologischen Vaters zu gewöhnen.

Wenn Männer sich zurückziehen, kann sich für Frauen ein Raum öffnen, in dem sie sich stärker in der Gesellschaft engagieren können.  Adivasi-Frauen in Indien haben sich organisiert, um gegen korrupte Beamte vorzugehen, die staatliche Hilfe für bedürftige Familien abzweigen.

Manche Frauen folgen ihren Männern

Viele Orte, in denen wir Frauen besucht haben, leiden unter extremen Wetterereignissen, die sich im Zuge des Klimawandels verstärken. Einige der Frauen versuchen, damit zurechtzukommen, andere entscheiden sich ihrerseits dafür, wegzugehen. So wie die 45-jährige Tsega aus Dega, Tigray. Die Mutter von vier Kindern musste Tag für Tag vier Kilometer zum nächstgelegenen Brunnen laufen, um Wasser zu holen. Ihr Mann war nach Saudi-Arabien gegangen, um Geld zu verdienen. Als sie monatelang kein Geld von ihm erhielt und Angst hatte, dass er die Familie verlassen würde, entschloss sie sich, ihm dorthin zu folgen, ihn zu suchen und als Haushaltshilfe Geld für den Unterhalt der Kinder zu verdienen. Diese überließ sie der Obhut von Verwandten. Sie fand ihren Mann, und sie verdiente auch Geld, das sie nach Hause schicken konnte. Aber wie viele andere ausländische Haushaltshilfen in Saudi-Arabien wurde sie auch ausgebeutet und missbraucht. Schließlich wurde sie zusammen mit ihrem Mann zurück nach Äthiopien geschickt. Heute lebt die Familie wieder mehr schlecht als recht in der extrem trockenen Region von Dega.

Auch in der Sierra Norte Region von Oaxaca, Mexiko erschwert der Klimawandel den Menschen das Leben. Unter anderem befördert er die Pflanzenkrankheit Kaffeerost. Ein großer Teil der indigenen Bevölkerung jedoch lebt vom Kaffeeanbau und wird daher von Ernteausfällen existenziell getroffen. Auch deshalb wollen viele Männer das Land verlassen. „Meine acht Söhne haben Kaffee angebaut, aber als der Kaffeerost kam, mussten sie gehen“, erinnerte sich die 69-jährige Irene Jimenéz Almaraz, als wir 2019 in ihrem Wohnzimmer mit ihr sprachen. Irene selbst aber gab den Kaffeeanbau nicht auf. Mit Hilfe einer nichtstaatlichen humanitären Organisation pflanzte sie neue und vielfältige Kaffeesorten an, um zu testen, welche dem Rost widerstehen konnten. „Kaffee braucht viel Aufmerksamkeit und Pflege, die Parzellen müssen alle zwei Monate ausgeputzt werden. Ich arbeite also, Schritt für Schritt, denn der Kaffee ist alles, was ich habe“, sagt sie.

Zurückgelassene Frauen engagieren sich auch politisch

Mehr Arbeit, mehr Verantwortung, und dadurch auch mehr politisches Engagement der Frauen – das ist oftmals die Folge der Migration der Männer. Das wurde auch bei den Adivasi in Indien deutlich. Dort organisierten sich viele Frauen ausgewanderter Männer mit Hilfe humanitärer Organisationen in Solidaritätsgruppen, um gegen korrupte Beamte vorzugehen, die einen Teil der Unterstützungsleistungen für arme Familien in die eigene Tasche leiteten. In den indigenen Gemeinden Mexikos wiederum vertraten Frauen, deren Männer im Ausland waren, in Gemeindeversammlungen ihre Familien – eine Rolle, die traditionell immer Männer ausgefüllt hatten.

„Wir müssen am gesellschaftlichen Leben teilhaben und tun das auch“, sagt Juliana López aus El Fortín Alto in Oaxaca. „Die Männer gewöhnen sich daran, dass auch Frauen zum Mikrofon greifen und etwas sagen. Wir werden gleichberechtigt.“

Aus dem Englischen von Barbara Erbe. 

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