Selbstständig, aber arm

In Tadschikistan lebt die Mehrheit der Bevölkerung von der Hand in den Mund

Von Frank Bliss

Knapp zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion herrscht in der früheren Teilrepublik Tadschikistan große Armut. Die Wirtschaft hat sich von den Folgen des Bürgerkriegs nach der Unabhängigkeit bis heute nicht erholt. Die Hilfe aus dem Ausland trifft auf schwierige politische Bedingungen, die Regierung der zentralasiatischen Republik verliert in einigen Landesteilen stark an Einfluss. Als Folge der Armut wachsen gesellschaftliche Probleme wie Drogenmissbrauch und Kriminalität.

Tadschikistan, einer der Nachfolgestaaten der zerbrochenen UdSSR, war zu Sowjetzeiten das mit Abstand ärmste Land der Union. Heute zählt es zu den ärmsten Ländern der Welt: Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von gut 1700 US-Dollar (Kaufkraftparitäten) pro Jahr lag es laut Weltbank 2007 hinter Kamerun und dem Sudan. Dass Tadschikistan heute, 17 Jahre nach der Unabhängigkeit, auf dem UN-Index der menschlichen Entwicklung immerhin noch auf Platz 122 von 177 liegt (Kamerun: 144, Sudan: 147), verdankt es seinem von der Sowjetunion geerbten Bildungssystem und dem noch halbwegs funktionstüchtigen Gesundheitswesen.

In der UdSSR wurde die Ökonomie der Tadschikischen Teilrepublik in erheblichem Umfang aus dem Staatsbudget subventioniert. Moskau unterstützte beispielsweise die Viehhaltung in Gebirgszonen, die über zwei Drittel der tadschikischen Landfläche ausmachen, mit über 50 Prozent der Produktionskosten. Zudem hatte der Sowjetstaat seit den 1950er Jahren in erheblichem Umfang in die ökonomische und soziale Infrastruktur investiert: In den 1980er Jahren hatten die Elektrifizierung und der Wegebau das letzte Dorf erreicht, und selbst in den abgelegensten Bergtälern standen der Bevölkerung Bildungs- und Gesundheitsangebote zu extrem niedrigen Preisen oder sogar kostenlos zur Verfügung. Zum Heizen wurde stark subventionierte Steinkohle verteilt.

Umso gravierender mussten die Menschen den wirtschaftlichen Abstieg empfinden, als Tadschikistan 1991 unabhängig wurde und fortan die Subventionen nicht mehr flossen. Die Wirtschaft schrumpfte in den Folgejahren auf 30 Prozent des Standes von vor 1991, die Armutsrate stieg auf über 90 Prozent. Der Staat war 1992 praktisch zahlungsunfähig, als im Mai jenes Jahres auch noch ein Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Fraktionen um die Macht im Lande ausbrach. Der Krieg konnte erst 1997 formell beendet werden; die letzten bewaffneten Auseinandersetzungen endeten 1999/2000.

Der Bürgerkrieg zerstörte zahlreiche Dörfer, aber auch einen Großteil der Infrastruktur vor allem in der landwirtschaftlich wichtigen Provinz Khatlon, so dass nach Ende der Kampfhandlungen die Strom-, Wasser- und Verkehrsinfrastruktur wieder aufgebaut oder repariert werden musste. Die landwirtschaftlichen Bewässerungs- und Drainageanlagen blieben aber teilweise unbrauchbar. Weite Teile des südlichen Khatlon waren bereits damals versumpft und versalzen, weil schon seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wegen Budgetproblemen der Sowjetunion dringende Infrastrukturinvestitionen in der Landwirtschaft unterblieben waren.

Der Bürgerkrieg war für die tadschikische Bevölkerung eine Phase des wirtschaftlichen und politischen Chaos. Nicht nur ging die Wirtschaftsleistung dramatisch zurück und wurde die physische Infrastruktur zerstört. Auch das gesamte soziale System wurde zerrissen, und wesentliche Teile des technisch-wissenschaftlichen Know-how gingen verloren. Das Jahr 2000 kann insofern als das Anfangsjahr der wirtschaftlichen Gesundung und des Wiederaufbaus gelten. Die nach Kriegsende einsetzende Entwicklungszusammenarbeit internationaler Geber sollte helfen, die Folgen des Krieges zu überwinden. Vor allem die Asiatische Entwicklungsbank, die Weltbank, UNDP und andere UN-Organisationen, aber auch bilaterale Geber wie Deutschland, die Schweiz oder neuerdings Großbritannien und Schweden leisten mit steigender Tendenz technische und finanzielle Hilfe, die jedoch auf ein sehr problematisches Umfeld trifft. Frühere Kriegsherren und die Drogenmafia gewinnen an Einfluss

So ist unter anderem die anhaltend schlechte Regierungsführung dafür verantwortlich, dass sich weder ausländische Investoren für größere Projekte finden noch die knappen, aber durchaus mobilisierbaren Ressourcen der tadschikischen Bevölkerung produktiv zur Schaffung von Arbeitsplätzen verwendet werden. Hinzu kommt, dass der Staatsapparat seit der Präsidentenwahl 2006 Bürgerrechte zunehmend einschränkt und damit Initiativen jeder Art lähmt. Das US-Außenministerium charakterisiert Tadschikistan deshalb mit Recht als „autoritären Staat“, dessen Politik von Präsident Emomalii Rahmon und einem inneren Zirkel loyaler Unterstützer dominiert wird.

Es gibt aber Anzeichen, dass der Einfluss der Regierung in den Provinzen (Oblaste) Sughd, Gharm, Gorno-Badakhshan und selbst in Khatlon schwindet und stattdessen frühere Kriegsherren aus dem Bürgerkrieg, neue nationale Eliten, aber auch ausländische Kräfte zum Beispiel aus dem Umfeld der afghanischen Drogenmafia an Einfluss gewinnen. Verantwortlich hierfür sind die schlechte Politik der Zentralregierung und die abnehmende Integrationskraft des Präsidenten, der nach dem Bürgerkrieg von vielen lange als Garant des Friedens angesehen wurde.

Eine Ursache für die schleppende Armutsbekämpfung ist die von einflussreichen Kräften bewusst herbeigeführte Krise im Baumwollsektor. Zwar ist der Preis für Baumwolle derzeit auf dem Weltmarkt selbst für die wegen des Bewässerungsbedarfs relativ teuren Standorte Khatlon und Sughd attraktiv. Zudem wurden die vormaligen Monopol-Staatsbetriebe (Sowchosen) mittlerweile privatisiert. Aber die Regierung bzw. die Chefs der Kreisadministrationen haben Besitztitel und Nutzungsrechte in einem undurchsichtigen Verfahren fast vollständig an lokale Machthaber oder ausländische Geschäftsleute verschachert. Oder aber diese Rechte sind in der Hand ehemaliger Betriebsmanager geblieben, die die rechtliche Unwissenheit der Bevölkerung ausgenutzt haben. Die Arbeiter und Arbeiterinnen der früheren Sowchosen dagegen sind leer ausgegangen. Ein komplexes System aus überteuerten Krediten, Betrug und Zwangsverkauf der Baumwolle an neue Monopolisten bewirkt, dass sie praktisch umsonst für die ihnen teilweise unbekannten „Investoren“ schuften.

Obwohl in den Baumwollgebieten auch Frauen und Kinder fast durchgängig Feldarbeit leisten, lagen die Familieneinkommen in den Jahren 2004 bis 2006 nur bei einer Handvoll Dollar im Monat und steigen erst seit dem vergangenen Jahr etwas an, seit zumindest das Pflücken der Baumwolle bezahlt wird. Bisher wurden die Arbeiter und Arbeiterinnen nämlich nicht mit Geld entlohnt, sondern vorrangig mit Wasser für den kleinen, nach sowjetischer Tradition privaten Hausgarten sowie mit der Erlaubnis, im Herbst die Stoppeln der Baumwolle als Brennstoff zum Kochen und zum Heizen „kostenlos“ abernten zu dürfen. Bei vielen besteht zudem die Hoffnung, vielleicht später einmal doch etwas Land zu erhalten.

Laut Weltbank und CIA World Factbook ist die Armutsrate in Tadschikistan zwischen 1999/2000 und 2003 zunächst von 83 Prozent auf 68 Prozent und in den folgenden Jahren weiter auf 60 Prozent gesunken. Als arm gilt, wer pro Tag mit weniger als zwei Dollar nach Kaufkraftparität auskommen muss. Die für Tadschikistan angesetzte Kaufkraftparität beträgt 500 Prozent, das heißt ein Dollar soll dort fünfmal mehr Kaufkraft haben als in den USA; die offizielle tadschikische Armutsgrenze liegt daher bei umgerechnet 40 US-Cent.

Die tatsächliche Armutsgrenze ist aber höher, denn die Kaufkraftparität sinkt seit Jahren und liegt schon längst nicht mehr bei 500 Prozent. Weizenmehl zum Beispiel ist in Tadschikistan auf lokalen Märkten heute teilweise teurer als in deutschen Supermärkten. Auf Mehl entfallen bis zu 60 Prozent der Lebensmittelausgaben beziehungsweise rund 40 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der Tadschiken. Das heißt für diese 40 Prozent des Einkommens darf eine Kaufkraft im Vergleich zu Deutschland von höchstens eins zu eins, eher sogar nur von 0,8 angesetzt werden. Auch Treibstoff (Benzin, Diesel) wird zu Weltmarktpreisen verkauft (circa ein US-Dollar pro Liter), und Steinkohle zum Heizen kostet ebenfalls mehr als in Deutschland. Familien mit vielen Kindern, aber wenigen Arbeitskräften sowie ältere alleinstehende Menschen und von Frauen geleitete Haushalte sind von der von steigenden Preisen verschärften Armut besonders betroffen.

Eine Folge ist, dass viele Familien ihre Kinder nicht zur Schule schicken können, weil sie kein Geld für Kleidung, Schuhe und Lehrmittel haben. Vor allem Mädchen müssen im Haushalt und auf dem Feld helfen. Ihre Schulbesuchsrate ist von nahezu 100 Prozent noch vor wenigen Jahren deutlich auf geschätzte 80 bis 90 Prozent gesunken. Da Lehrer mit ihrem niedrigen Gehalt von 20 bis maximal 50 Dollar im Monat kaum auskommen können, wandern viele aus und das Unterrichtsniveau sinkt dramatisch. In Gesundheitsstationen fehlt es an Geräten und Medikamenten; im Winter bleiben viele kleinere Posten wegen Heizstoffmangel geschlossen. Strom gibt es auf dem Land lediglich zwischen Mai und September, im Winter nur stundenweise und mit niedriger Voltzahl. Weder auf dem Land noch in kleineren Städten reicht der Strom zum Heizen. Bei Temperaturen bis minus 25 Grad Celsius werden Wohnungen und Häuser zumeist nur stundenweise mit alten russischen Öfen beheizt, beispielsweise mit Kuhdung.

Die Geldnot zwingt viele in die beschriebene „Sklavenarbeit“ in der Baumwollindustrie, auch wenn dort oft nur umgerechnet 20 US-Cent am Tag gezahlt werden. Zudem gab es in den vergangenen Jahren zunehmende Hinweise auf den Handel mit Frauen und Mädchen sowie auf Prostitution, darunter Kinderprostitution; mittlerweile wird auch über den Handel mit Jungen berichtet. Auch der Handel mit und der Gebrauch von Drogen nehmen zu. Für weniger als 1000 Euro pro Kilo soll afghanisches Heroin in Tadschikistan zu bekommen sein, das in Moskau auf dem Schwarzmarkt bis zu 10.000 Euro bringt.

Vor allem arbeitslose junge Tadschiken sind anfällig dafür, ihre Freiheit und teilweise ihr Leben für ein paar hundert Dollar aus dem Heroinschmuggel zu riskieren. Eine bisher nur grob geschätzte Menge des Rauschgifts bleibt in Tadschikistan. Zur Zeit gibt es laut Untersuchungen zwischen 30.000 und 55.000 drogenabhängige Frauen und Männer im Land – bei einer Bevölkerung von weniger als sieben Millionen. Immerhin: Neuere Statistiken lassen einen leichten ökonomischen Aufwärtstrend und einen Rückgang der Armutsrate erkennen. Die Lage — auch im ländlichen Raum — hat sich in jüngster Zeit trotz der weiterhin sehr pessimistischen Selbsteinschätzung leicht verbessert. Das ist vor allem dem wirtschaftlichen Wachstum von zuletzt knapp acht Prozent insbesondere in der Baubranche und der Industrie zu verdanken sowie der hohen Arbeitsmigration. In Manchen Dörfern leben vier von fünf Familien von Auslandsüberweisungen

Laut Schätzungen sind zwischen 300.000 und mehr als einer Million vorwiegend junge Tadschiken vor allem in Russland zumeist während des Sommers auf Baustellen oder als Hilfskräfte in anderen Bereichen tätig. Seit 2006 hat sich ihre Situation dort durch die teilweise Legalisierung des Arbeitsaufenthaltes deutlich gebessert und sie können über Banken offiziell Geld nach Hause schicken — in der Regel zwischen 500 und 1000 Dollar pro Saison. In machen Dörfern leben inzwischen mehr als 80 Prozent der Familien von diesen Überweisungen.

Die Migration schafft aber neue Probleme, da nur die Alten, Frauen und Kinder in den Dörfern zurückbleiben. Als Folge schrumpft an vielen Orten die landwirtschaftliche Produktion. Selbst die früher stets gepflegten privaten Hausgärten, die nicht unwesentlich zum Überleben der Familien beigetragen haben, werden jetzt mehr und mehr vernachlässigt. Die typischen Probleme der Familien, die von Arbeitsmigration zerrissen werden, reichen bis hin zur Ausbreitung von HIV und Aids durch Rückkehrer.

Frank Bliss lehrt Ethnologie an der Universität Hamburg und ist Mitinhaber des entwicklungspolitischen Gutachterbüros Bliss & Gäsing.

welt-sichten 10-2008

 

erschienen in Ausgabe 10 / 2008: Klimaschutz: Welche Instrumente wirken?
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