Populistische Wohlfahrtsstaaten / Journalisten in Gefahr

der moderne Sozialstaat ist in Europa während der Industrialisierung entstanden und gilt mit Recht als große Errungenschaft. Krankheiten, Alter, Jobverlust oder Unfälle bedeuten für die meisten hier nicht mehr den Absturz in tiefe Not. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich haben Sozialstaaten wie in Deutschland, der Schweiz und mehr noch in Skandinavien in Grenzen gehalten. Doch alte Industriestaaten bauen Sozialleistungen zunehmend ab – während zugleich viele Schwellenländer sie stark ausweiten, schreibt der türkische Soziologe Erdem Yörük. Länder wie Brasilien, Indien und die Türkei folgen dabei nicht dem Modell aus Europa: Sie schaffen eine neue, „populistische“ Version des Wohlfahrtsstaates. Der Antrieb dafür ist nicht Not, sondern Aufruhr: Sozialhilfe soll Protesten und Revolten die Spitze nehmen. Warum viele, aber nicht alle Staaten zunehmend Sozialleistungen verteilen und warum sie dabei verschiedenen Modellen folgen, erklärt Yörük in seinem Beitrag für „welt-sichten“. 

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen

Melanie Kräuter

Das bewegt die Redaktion

"34 Journalisten getötet, 2 Medienmitarbeiter getötet, 517 Journalisten in Haft, 22 Medienmitarbeiter in Haft": So sieht das "Barometer der Pressefreiheit 2023" auf der Webseite der Organisation Reporter ohne Grenzen am heutigen Donnerstagnachmittag aus. Allein neun Journalisten wurden an und seit dem 7. Oktober, dem Terrorangriff der radikal-islamischen Hamas auf Israel, in palästinensischen Gebieten getötet. Die UNESCO hat in den vergangenen zwanzig Jahren 1628 getötete Journalisten weltweit gezählt, allein in Mexiko waren es 157, im Irak sogar 201. Diese Zahlen zu lesen, ist erschreckend. Denn diese Menschen machen nur ihre Arbeit - und werden im Krieg oder für ihre investigativen Recherchen getötet, etwa wenn sie korrupte Regierungsgeschäfte oder Umweltverbrechen aufklären. Ohne diese mutigen Menschen wüssten wir von all den Verbrechen und Vergehen, die Politiker, die Mafia oder manche Konzernbosse gerne vertuschen würden, viel weniger.  Auch in Somalia leben Journalistinnen und Journalisten gefährlich. Das hat uns Abdalle Ahmed Mumin vergangenes Jahr aufgeschrieben. Seitdem wurde der Generalsekretär des Somali Journalists Syndicate selbst  mehrmals verhaftet und und im Gefängnis misshandelt (wir berichteten). Inzwischen lebt der Kämpfer für die Meinungsfreiheit im Exil in London, weil es in Somalia zu unsicher für ihn ist. Mit meinem Kollegen Tillmann Elliesen hat er nun darüber gesprochen, wie es ihm in der Haft ergangen ist, warum die Menschenrechtslage in Somalia immer noch so schlecht ist und warum die EU seiner Meinung nach nicht mit dem somalischen Präsidenten zusammenarbeiten sollte. Das Interview werden wir nächste Woche veröffentlichen. Schauen Sie rein! 

Neu auf welt-sichten

„Die Intervention ist mittelfristig zum Scheitern verurteilt“: Der UN-Sicherheitsrat hat Anfang Oktober einen internationalen Polizeieinsatz in Haiti autorisiert. Das ist erneut der falsche Ansatz, die Gewalt dort zu beenden, sagt die Menschenrechtlerin Colette Lespinasse. 

Global Gateway tritt auf der Stelle: Mit einem Gipfeltreffen in Brüssel wollte die Europäische Union im Oktober ihrem globalen Investitionsprogramm Schub verleihen. Das ist offenbar nicht gelungen, kommentiert Tillmann Elliesen. 

Neustart für die Kooperation mit der Wirtschaft: Das Entwicklungsministerium erneuert seine Kooperation mit der Wirtschaft. Sie soll stärker am Ziel der Nachhaltigkeit ausgerichtet und entwicklungspolitisch wirksamer werden. Die Wirtschaft sieht wenig Neues, berichtet Marina Zapf. 

Religionsführer versuchen, Frieden zu stiften: Seit Mai kommt es im indischen Bundesstaat Manipur immer wieder zu Gewalt zwischen verschiedenen Ethnien. Jetzt haben sich Religionsführer mit Vertretern der verfeindeten Gruppen getroffen. Einen kritischen Blick warfen sie dabei auf die Rolle der sozialen Medien, berichtet Katja Dorothea Buck.

Mehr Geld aus neuen Töpfen: Im Haushaltsplan für 2024 verzeichnet Österreich einen leichten Anstieg an Geldern für entwicklungspolitische Ziele. Das Plus kommt aber nicht traditionellen entwicklungspolitischen Ressorts zugute – die klassischen Entwicklungsgelder stagnieren, schreibt Milena Österreicher. 

Noch immer interessant

Künstliche Intelligenz ist derzeit in aller Munde. ChatGPT ist für die meisten kein Fremdwort mehr, auf Smartphones ist künstliche Intelligenz unser täglicher Begleiter und längst setzt sich auch die Politik damit auseinander. Zuletzt haben sich sowohl die EU als auch die Biden-Administration in den USA damit beschäftigt, welche Regeln und Gesetze für die Entwicklung künstlicher Intelligenz gelten sollten und wie man sie (ethisch) sicher einsetzt. Aus diesem Anlass erinnern wir nochmal an unser Heft vor einem Jahr, dass "Schlaue Maschinen" zum Thema hatte und in dem mein Kollege Tillmann Elliesen über die "Zwei Gesichter der künstlichen Intelligenz", also deren Chancen und Risiken, geschrieben hat. 

Medienschau: Worüber andere berichtet haben

Pseudo-Offsetting - von der UN toleriert: Ein Kraftwerk im indischen Kerala verbrennt Diesel, Haushaltsmüll und Plastik und belastet Wohnviertel mit giftigem Abgas. Aber auf dem Papier ist sie sauber, spart CO2 und bringt CO2-Zertifikate auf den Markt, berichtet "The New Humanitarian".  

Vernachlässigtes Potenzial: Obwohl belegt ist, dass Friedensverhandlungen erfolgreicher verlaufen, wenn Frauen beteiligt sind, ist deren Teilnahme auf internationaler Ebene auf 16 Prozent gesunken, schreibt "Passblue"

Podcast-Tipp: Die neue Folge des Podcasts „between the lines“ vom Institute for Development Studies bringt ein Interview mit Dirk-Jan Koch, dem Chief Science Officer des niederländischen Entwicklungsministeriums und Autor von „Foreign Aid and its Unintended Consequences“. Er erklärt Kernthesen seines Buches: In Entwicklungsvorhaben werden mit viel Mühe die beabsichtigten Wirkungen gemessen, aber unbeabsichtigte Nebenwirkungen – gute wie schlechte – kaum beachtet. Zum Beispiel können sie lokale Geschlechter- und Machtverhältnisse in Bewegung bringen. Koch greift auf Erfahrungen in Afrika zurück und plädiert dafür, den Blick zu weiten, mit solchen Effekten offener umzugehen und Lernbarrieren bei den Praktikern abzubauen. Sehr interessant, leider ist die Tonqualität erstaunlich schlecht.

Denkfabrik: Was Fachleute sagen

Wie Rebellen wieder Bürger werden: Nach dem Friedensvertrag von 2016 hat Kolumbien einen besonderen Weg zur Reintegration früherer Kämpfer eingeschlagen – recht erfolgreich laut einer neuen Studie des "PRIF", die mein Kollege Bernd Ludermann gelesen hat.

Gamechanger oder leere Versprechungen?: Der Klimagipfel 2022 hat einen Fonds für Schäden und Verluste beschlossen. Das IPI Global Observatory erklärt, wer nun worüber streitet: Soll die Weltbank der Sitz sein? Wie viel Geld soll's sein? Wer zahlt – auch China? Sollen vor allem ärmste Länder profitieren? 

Venezuelas Regime und die Opposition haben sich auf Bestimmungen für die Wahlen 2024 geeinigt. Trotz Mängeln ist das Abkommen ein Durchbruch, den die USA mit Aussetzung einiger Sanktionen unterstützen, analysiert die Crisis Group.

Ausblick: Was demnächst ansteht

Können Saatgutbanken helfen, produktivere, nachhaltigere und widerstandsfähigere Agrarsysteme zu schaffen? Darum geht es bei dem "Global Crop Diversity Summit" am 14. November im Französischen Dom in Berlin. Bei der ganztägigen Veranstaltung wird es Diskussionen und Workshops mit verschiedenen Sprechern und Schwerpunkten geben. Wer nicht vor Ort dabei sein kann, kann sich auch für den Livestream registrieren. Alle Informationen zum Programm und Ablauf gibt es hier. 

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