Fundstücke als Zeitzeugen

In seinem dokumentarischen Filmessay „Der Perlmuttknopf“ erforscht Patricio Guzmán die Geschichte der Wassernomaden Westpatagoniens und das Schicksal politischer Gefangener unter Pinochet. Damit leistet er wichtige Erinnerungsarbeit. Filmstart ist der 10. Dezember. 

Vor fünf Jahren begab sich der chilenische Regisseur Patricio Guzmán mit seinem Dokumentarfilm „Nostalgia de la luz“ schon einmal auf Spurensuche in die Vergangenheit. Astronomen untersuchten darin uralte Lichtquellen in der Atacama-Wüste, Archäologen gruben nach Überresten vergangener Zivilisationen, und Frauen suchten nach Überresten ihrer während der Pinochet-Diktatur „verschwundenen“ Angehörigen. In seinem neuen Film, der auf der Berlinale 2015 den Silbernen Bären für das beste Drehbuch und den Preis der Ökumenischen Jury erhielt, erforscht der Dokumentarfilmer nun die Geschichte der fast verschwundenen Wassernomaden in Westpatagonien im Süden Chiles und das Schicksal politischer Gefangener unter Pinochet.

Stand im Vorgängerfilm die Wüste im Mittelpunkt, so dreht sich Guzmáns neuer Film um das Wasser. Begleitet von imposanten Panoramaaufnahmen, sinniert seine Erzählstimme aus dem Off immer wieder über das Wasser als Lebenselixier. Auf dem Wasser lebten auch die fünf Stämme, die sich vor 10.000 Jahren als erste Menschen in Patagonien niederließen. Mit der Ankunft der ersten europäischen und chilenischen Siedler um 1883 war jedoch das Ende ihrer naturnahen Existenzform besiegelt. Landraub, Krankheiten und Massaker löschten die Wassernomaden fast vollständig aus.

Im Film kommen die wenigen Überlebenden des Stammes zu Wort. So nennt die 73-jährige Gabriela von der ethnischen Gruppe Kawésqar in einer der stärksten Szenen die Äquivalente für spanische Worte in ihrer fast ausgestorbenen Sprache. Bei den spanischen Begriffen für Gott und Polizei schweigt sie. Wie in „Nostalgia de la luz“ kombiniert der 74-jährige Regisseur Interviews und Archivfotos, poetische Landschaftsaufnahmen und Animationssequenzen aus dem All, philosophische Reflexionen und den selbst gesprochenen warmherzigen Off-Kommentar zu einem komplexen Filmessay. Driften seine meditativen Spekulationen über das Wasser, das angeblich die Stimmen der Erde und sogar die des Weltraums aufnehmen kann, anfangs teilweise ins Esoterische ab, so wird sein Film in der zweiten Hälfte immer politischer.

Als metaphorisches Schlüsselelement der Erzählung fungiert der titelgebende „Perlmuttknopf“, und das doppelt. Erstmals taucht er in der Geschichte um Jemmy Button auf. Dieser Indigene ging 1830 an Bord eines englischen Schiffes, das ihn zur Zivilisierung nach Europa bringen sollte, „weil ihm die Perlmuttknöpfe der Matrosen so gut gefielen.“

Der zweite Perlmuttknopf schlägt die Brücke zur Pinochet-Epoche, in der sich die Barbarei der Kolonisatoren gleichsam wiederholte. Den Knopf entdeckt der Filmemacher auf einem überwucherten Eisenbahnschienenstück, das offenbar am Hemd eines politischen Gefangenen befestigt war, dessen Leiche die Schergen der Junta aus Hubschraubern ins Meer geworfen hatten. Gerichtlichen Recherchen zufolge ließ das 16 Jahre lang herrschende Regime bis zu 1400 Häftlinge auf diese Weise spurlos verschwinden. Indem der Regisseur die Tötungsmethoden präzise beschreibt, ja sogar in einer Szene nachspielen lässt, leistet er wichtige Erinnerungsarbeit in einem Land, in dem erst 40 Prozent der Verbrechen des Pinochet-Regimes vor Gericht gekommen sind. „Die Straffreiheit ist ein doppelter Mord“, kommentiert deshalb der Dichter Raúl Zurita.   

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