Die Analysen des norwegischen Entwicklungsökonomen Morten Jerven haben für viel Wirbel in den Debatten über die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika gesorgt. Sein jüngstes Buch fasst in gekonnter Weise die Argumente früherer Arbeiten neu zusammen.
Über Jahrzehnte hinweg galt das subsaharische Afrika als Kontinent der Krisen. Mit steter Regelmäßigkeit wurde mangelndes Wirtschaftswachstum als eines der Grundübel postuliert, und Entwicklungsökonomen suchten mit Hilfe ständig verfeinerter Wachstumsmodelle und ökonometrischer Methoden nach den „typisch afrikanischen“ Schwachstellen.
Die Angemessenheit, Zuverlässigkeit und Qualität der dabei verwendeten makroökonomischen Daten muss laut Jerven angezweifelt werden – doch ist dies nicht wie in seinem Vorgängerbuch „Poor Numbers“ das Hauptanliegen dieses Buches. Vielmehr geht es ihm darum zu zeigen, dass die Dominanz des ökonomischen mainstreams im entwicklungsökonomischen Denken nicht nur zu falschen Schlussfolgerungen bezüglich der Geschichte wirtschaftlichen Wachstums in Afrika führt. Sie fördert auch missliche Politikempfehlungen und versäumt es, die Leistungen afrikanischer Regierungen angemessen zu würdigen.
Denn statt Phasen wirtschaftlicher Stärke und Schwäche in ihren länderspezifischen Zusammenhängen umfassend und mit historischem Blickwinkel nachzuvollziehen, vergleichen Ökonomen bloße Zeitreihen zwischenstaatlicher Unterschiede im Bruttosozialprodukt. Diese benutzen sie zur Identifizierung von Entwicklungshindernissen wie Korruption und staatlicher Ineffizienz. Damit liefen sie, führt Jerven aus, zugleich Gefahr, die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung auf den Kopf zu stellen. So wenig wie man mit Hilfe der etablierten Methoden vergangene Wachstumsepisoden und -erfahrungen afrikanischer Länder verstehen kann, so wenig ist man in der Lage, Afrikas jüngsten wirtschaftlichen Aufschwung zu erklären und die erstaunliche Widerstandsfähigkeit gegenüber wiederholten globalen Finanzkrisen nachzuvollziehen, so die These Jervens.
Als fundamentale Schwäche gegenwärtiger Theoriebildung gilt dem Autor, dass bis heute nicht klar ist, wie sich Phasen schnellen Wachstums in qualitative Veränderungen übersetzen; das heißt, welches transformative Potenzial für Gesellschaften und Ökonomien in ihnen steckt. Statt der Dynamik von Prozessen auf den Grund zu gehen, widmen sich Ökonomen vorrangig der Vorhersage von Ergebnissen bestimmter Interventionen in diesen Prozessen. Die theoretische Herleitung dieser Interventionen beruhe dabei auf teilweise wirklichkeitsfernen Annahmen einer Welt im Gleichgewicht, kritisiert Jerven.
Seine Schlussfolgerung ist deshalb ein Aufruf an die Entwicklungsökonomie, eine Kehrtwende zu vollziehen: eine Wende hin zur Analyse realer afrikanischer Ökonomien (nicht: der Ökonomie) und eine Wende hin zu einem Verständnis dessen, was in diesen Ökonomien passiert. Dies würde allerdings voraussetzen, dass Entwicklungsökonomen bereit sind, mehr als die Fürsprecher bestehender Modelle zu sein, die vor allem Abweichungen vom theoretischen Idealfall oder von der historischen Entwicklung europäischer oder nordamerikanischer Wirtschaften zu beleuchten vermögen. Die Hauptbotschaft Jervens, mit der das Buch beginnt, zieht sich deutlich durch den gesamten Text: Lasst uns doch bitte endlich die richtigen Fragen stellen!
(Der Text beruht auf einer längeren englischen Rezension dieses Buches im „Africa Spektrum“ 2/2015).
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