Rappen gegen die Zwangsheirat

Noch immer werden Mädchen in Afghanistan von ihren Familien gegen Geld zwangsverheiratet. Dieses Schicksal droht auch der 18-jährigen Sonita, die schon lange im Iran lebt. Doch die junge Frau  wehrt sich – mit einem wütenden Protestvideo, das sie ins Internet stellt.

In ihrem ersten langen Dokumentarfilm porträtiert die in Teheran ausgebildete Regisseurin Rokhsareh Ghaem Maghami eine starke junge Afghanin, die Rihanna und Michael Jackson bewundert. Sonita Alizadeh lebt seit mehr als zehn Jahren ohne Papiere in Teheran und sie jobbt bei einer „Hilfsorganisation für Straßenkinder und arbeitende Kinder“. Als Kind war Sonita mit ihrer Familie vor den Taliban hierher geflohen, doch inzwischen sind die meisten Familienmitglieder heimgekehrt. Sonita teilt sich mit ihrer älteren Schwester und deren kleiner Tochter ein schäbiges Zimmer. Hin und wieder ist zu sehen, wie eine Sozialarbeiterin Sonita und anderen Mädchen helfen will, ihre Fluchttraumata zu überwinden.

Wie viele Gleichaltrige möchte Sonita Sängerin werden. Erst singt sie  Pop-Songs, dann versucht sie sich als Rapperin. Als sie mit einem Mitstreiter in Teheran nach einem Studio sucht, um einen Song gegen Kinderarbeit aufzunehmen, stößt sie auf Widerstände. Denn in der Islamischen Republik ist es Frauen untersagt, öffentlich zu musizieren oder gar solo zu singen.

Dann fordert die Familie Sonita zur Heimkehr auf: Sie soll für 9000 Dollar an einen fremden Mann verkauft werden. Einer ihrer Brüder braucht das Brautgeld, weil er selbst heiraten will. Sonitas Mutter reist eigens an, um sie mitzunehmen. Immerhin erklärt sie sich zu einem Aufschub von sechs Monaten bereit, wenn sie 2000 Dollar erhält. Nach kontroverser Diskussion legt das Filmteam das Geld zusammen. Mit der Kamera des Teams zeichnet Sonita ein Musikvideo über verkaufte Bräute auf, das im Internet zum Hit wird und ihr ein Stipendium für eine US-Musikschule einbringt. Doch für die Ausreise braucht sie Pass und Visum – beides kann sie nur in Afghanistan bekommen . Die Regisseurin begleitet sie auf der gefährlichen Reise, von deren Zweck die Familie nichts erfahren darf.

Mit ihrer sympathischen Heldin und einem bewegenden Plädoyer für die Selbstbestimmung der Frau, für Grundrechte, Toleranz und Freiheit findet Maghamis  Film leicht Zugang zu den Herzen der Zuschauer. Das zeigte sich auch auf dem Sundance Film Festival 2016, wo „Sonita“ den Großen Preis der Jury und den Publikumspreis gewann. Einen weiteren Publikumspreis erhielt der Film auf dem Dokumentarfilmfestival in Amsterdam.

Die wichtigste Besonderheit an der konventionellen Underdog-Geschichte ist, dass die Regisseurin gegen ein ungeschriebenes Gesetz der Dokumentarfilmzunft verstößt: Dokumentarfilmer sollen die Realität wiedergeben, diese aber nicht gezielt verändern. Bewegt vom Mitgefühl für die junge Rebellin greift Maghami aber ins Geschehen ein und gibt deren Leben eine folgenreiche Wende. Die humanitäre Wende deutete sich in der packendsten Szene des Films bereits an: Da fragt die verzweifelte Sonita die Regisseurin: „Willst Du mich kaufen? Zum Verkauf stehe ich sowieso!“

Im entscheidenden Augenblick setzt sich Maghami gegen Bedenken ihrer männlichen Techniker durch. Es handelt sich wohlgemerkt nicht um eine dramaturgische Provokation, sondern um einen Akt der Barmherzigkeit: Nur durch ihr Eingreifen ließ sich Sonita aus einer aussichtslosen Lage retten. Manche Zuschauer werden sogar fragen: Darf man als Dokumentarfilm einfach nur zusehen und nicht helfen?

Im weiteren Verlauf des Films wird das Bekenntnis der Regisseurin, Verantwortung zu übernehmen, leider nicht mehr thematisiert. Man sieht Sonita beim Lernen in Utah und bei einem umjubelten Konzertauftritt. Doch ist sie nun glücklich? Kommt sie hier klar ohne ihre Familie? Gelingt eine Karriere im Musikgeschäft? Vielleicht erfahren wir die Antworten in einem weiteren Film.

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