Geschichte einer Befreiung

Mahi Binebines Roman über einen Straßenjungen aus Marrakesch ist eine Coming-of-Age-Erzählung von der heilsamen Wirkung der Kunst auf Mensch und Gesellschaft.

Binebines Interesse gilt in vielen seiner Werke jenen, die in seiner Heimat Marokko keine Stimme haben und ohne Würde leben müssen. Sein neuer Roman „Der Himmel gibt, der Himmel nimmt“ lässt sich insofern als eine Art Fortsetzung lesen. Erneut nimmt Binebine die Perspektive der Ärmsten und Entrechteten ein. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Straßenjunge aus der Medina von Marrakesch: Mimûn ist sein Name, und er ist als „Genie in der Kunst des Bettelns auf die Welt gekommen“. Schon die Hebamme erliegt seinem Blick und verzichtet auf ihr Honorar. Fortan wird er seine Gabe, die Herzen der Menschen zu öffnen, auf dem Djemaa el Fna, dem zentralen Marktplatz von Marrakesch zum Besten geben – erst als Baby, dann als missgebildeter junger Mann.

Auf den ersten Seiten mutet der Roman daher wie eine märchenhafte Erzählung über die Welt der Gaukler und Bettler an. Doch Binebine setzt dem bitteren und schweren Los von Straßenkindern ein Denkmal, ohne die Schattenseiten einer solchen Existenz zu verschweigen und ohne seine Figuren allein zu Opfern oder elenden Kreaturen zu erklären. Natürlich ist Mimûns Schicksal todtraurig: Seine Mutter verleiht ihn als Baby an Bettlerinnen – als er älter wird, bandagiert sie seinen Körper, um ihn am Wachsen zu hindern. So wird Mimûn zum Krüppel und verdient als solcher sein Geld.

Das Schicksal des Jungen wendet sich erst, als er über einen seiner Brüder einen Spanier kennen lernt, der sich seiner annimmt. Monsieur Salvadore, ein emeritierter Professor, gibt ihm Unterricht in Lesen und Schreiben und eröffnet ihm auf diese Weise die Welt der Literatur. Sie wird zur Gegenwelt und ist Rettung vor und Entfremdung von den Seinen zugleich. Zum ersten Mal begehrt Mimûn gegen seine älteren Brüder auf. Es regt sich in ihm der Glaube an die Möglichkeit, dass das Schicksal etwas anderes, besseres, größeres für ihn bereithält. Und tatsächlich: Mimûn wird, mehr sei nicht verraten, an der Seite einer lebenstüchtigen Schlangenfrau in die Millionenstadt Casablanca gehen, die Seinen hinter sich lassen und sich dort ein eigenes Leben aufbauen.

Doch Binebine – der ohne Hemmung griechische Tragödie und fantastisch anmutende Fabulierlust miteinander vermählt – schenkt weder seinem Helden noch uns ein einfaches Happy End: Mimûn wird letztlich alles verlieren, zugleich aber etwas gewinnen. Am Ende kehrt er nach 20 Jahren zurück in seine Heimatstadt Marrakesch, wo er sich endlich mit seiner Mutter versöhnt – und damit mit der Welt, aus der er stammt. „Der Himmel gibt, der Himmel nimmt“ ist insofern die Geschichte eines Coming-of-Age und zugleich lesbar als Metapher. Denn das ganze nordafrikanische Land, das sich allzu lange gängeln ließ von denen, die das Sagen hatten, hat sich nunmehr befreit und muss versuchen, sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen. In dieser Deutung liegt die eigentliche Kraft dieses Romans, dessen Autor uns voller Optimismus sagt: die Bildung, die Kunst kann dafür eine Hilfe, eine Brücke sein.

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