Einblicke in eine fast verschlossene Welt

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann. UK/USA 2020, Regie: Jerry Rothwell, 82 Minuten, Kinostart: 31. März 2022 

Jerry Rothwells einfühlsamer Dokumentarfilm erzählt von der Erfahrungswelt von fünf jungen Menschen aus vier Kontinenten, die von Autismus-Spektrum-Störungen betroffen sind. 

Der britische Dokumentarfilmer Jerry Rothwell stützt seinen Film auf das gleichnamige Buch „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“, das der Japaner Naoki Higashida im Jahr 2007 im Alter von 13 Jahren geschrieben hat. Bis heute wurde es in über 30 Sprachen übersetzt. Als Naoki fünf Jahre alt war, wurde bei ihm schwerer nonverbaler Autismus diagnostiziert, er konnte sich sprachlich nicht artikulieren. Der Junge lernte, mit Hilfe einer Alphabettafel zu kommunizieren, und schrieb schon früh Gedichte und Kurzgeschichten. Der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Autor, der bis heute kaum sprechen kann, hat seitdem mehrere weitere Bücher publiziert. Sein Erstlingswerk beschreibt in einem fiktiven Dialog, wie hoch für ihn in der Kindheit die Hürden vor dem Sprechen waren, und gewährt so Einblicke in die Wahrnehmungswelt eines Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, die Menschen mit normaler neurologischer Entwicklung üblicherweise verschlossen bleibt. 

Der Regisseur kombiniert Auszüge des Buches, die aus dem Off zu Bildern eines stumm umherstreifenden japanischen Jungdarstellers gesprochen werden, mit Porträts von fünf jungen Autisten aus vier Kontinenten. Auch ihre jeweiligen Eltern berichten von ihrem Alltag, von liebevoller Fürsorge ebenso wie von Schwierigkeiten im alltäglichen Umgang. 

Emotionen, in Zeichnungen ausgedrückt oder auf dem Trampolin

Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie mündlich so gut wie nicht kommunizieren können. So versucht das Mädchen Amrit aus der Industriestadt Noida in Nordindien von klein auf, ihre Emotionen in Zeichnungen auszudrücken. In der Schule wird sie gemobbt, aber ihre Zeichnungen werden schließlich in einer Einzelausstellung öffentlich gezeigt. Der britische Teenager Joss aus Broadstairs hat große Probleme, seine Wutausbrüche im Zaum zu halten. Er tobt sich auf dem Trampolin aus und liebt es, brummenden Stromverteilerkästen zuzuhören, die er aus weiter Ferne orten kann.

Am schwersten hat es Jestina aus Freetown in Sierra Leone, die sich so gern in der Natur aufhält und Tiere beobachtet. Denn in dem afrikanischen Land ist die Diskriminierung von Autisten besonders ausgeprägt. Jestinas Mutter Mary muss sich sogar von Nachbarn anhören, dass ihre Tochter vom Teufel besessen sei. Erst nach langer Suche gelingt es Jestinas Eltern, eine geeignete Schule für Jestina zu finden. 

Rothwell schildert exemplarische Stationen aus den Lebensgeschichten der Protagonisten in einer geschmeidigen Montage und versucht mit einer poetischen Bildsprache, für die verwirrenden Sinneseindrücke nonverbaler Autisten visuelle und akustische Analogien zu gestalten. Dabei lehnt er sich unter anderem an Naokis Beschreibungen einer visuellen Welt an, in der dieser zunächst die Details und erst danach das Gesamtbild erfasst – und sich deshalb die Welt wie bei einem Puzzle Stück für Stück zusammensetzen muss. Zugleich arbeitet der Regisseur anschaulich heraus, wie sich die Erfahrungswelten der jungen Protagonisten ähneln und wie stark diese auf allen vier Kontinenten unter Unverständnis und Ausgrenzung leiden. Er ermöglicht es den Zuschauenden, zumindest ansatzweise nachzuvollziehen, wie Autisten die Welt wahrnehmen. Das macht den Film zum kraftvollen Plädoyer für Toleranz und Solidarität.

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