Vielfältige Eindrücke, kaum Visionen

Ben Wilson: Metropolen. Die Weltgeschichte der Menschheit in den Städten. S. Fischer-Verlag, Frankfurt 2022, 592 Seiten, 34 Euro

Anschaulich und unterhaltsam führt Ben Wilson durch sechs Jahrtausende Urbanisierungsgeschichte. Allerdings bleiben seine Lehren für die Gestaltung städtischer Politik blass und oberflächlich. 

Kann das gelingen, was sich der Historiker und Journalist Ben Wilson da vorgenommen hat: eine Weltgeschichte der Urbanisierung vom vierten vorchristlichen Jahrtausend bis zu den heutigen Slums der Megacity Lagos? Darüber hinaus möchte der Autor zeigen, „wie wir in Städten leben sollten“ und wie „divers“ diese sein können. Denn als Historiker ist ihm durchaus bewusst, dass es in der Geschichte sehr viele unterschiedliche Formen von Städtewachstum und Stadtentwicklung gegeben hat. 

Das Buch ist in 14 Kapitel gegliedert, die jeweils chronologisch angeordnet unter einer plakativen Überschrift – wie beispielsweise „Garten Eden und Stadt der Sünde“, „Weltmetropolen“ oder „Die Pforten der Hölle“– eine oder mehrere ausgewählte Metropolen in den Mittelpunkt stellen. In jedem Kapitel schöpft Wilson aus einem ungewöhnlich breiten Literaturfundus. Neben fachhistorischen Artikeln und archäologischen Befunden für die Frühzeit, zitiert er aus zeitgenössischer belletristischer Literatur und aus Reiseberichten, bezieht sich für die frühe Neuzeit auf Malerei und für das späte 20. Jahrhundert auf Popkultur. 

Angefangen beim Gilgamesch-Epos bis hin zu Interviews mit den informellen Handwerkern im „Otigba Computer Village“ in Lagos. So schafft er es, schon im ersten Kapitel über das mesopotamische Uruk ein lebendiges Bild vom Leben der Menschen, von den Möglichkeiten, von ihrem Erfindungsreichtum und von den Zwängen, denen Stadtentwicklung auch damals schon unterlag, zu zeichnen. Wir lernen: Anpassung an den Klimawandel war auch vor 5000 Jahren ein brandaktuelles Thema für die Stadtgesellschaft. 

An keiner Stelle eurozentrisch

Man folgt dem Autor gerne auf seinem Weg von Metropole zu Metropole. Im Kapitel über das mittelalterliche Bagdad mit seinen weltumspannenden Handelskontakten läuft einem beim Lesen der ausführlichen Beschreibung der vielen Garküchen am Straßenrand das Wasser im Mund zusammen – für den Autor Anlass, gleich noch einen genauso kundigen Seitenblick auf die Essensstände in den Slums von Lagos nachzuschieben. Ein Buch, das vielfältigen Sinneseindrücken, ja der Sinnlichkeit Raum gibt. 

Die Art, wie Wilson sein Material präsentiert, ist an keiner Stelle eurozentrisch. Im Kapitel „Weltmetropolen“ stehen Lissabon, Malakka, Tenochtitlan und Amsterdam in einer Reihe. Immer wieder weist der Autor darauf hin, dass sich im Laufe der Geschichte die ganz großen Metropolen vor allem in Asien, auch in Afrika, aber fast nie in Europa entwickelt haben. Wenn er seine Leserinnen und Leser ins mittelalterliche Deutschland entführt, will er selbst kaum glauben, dass eine so kleine Stadt wie Lübeck mit der Hanse ein riesiges Städtenetzwerk aufrechterhalten konnte. 

Gegen Ende des Buchs allerdings wird Wilson geschwätzig. Die Abschweifungen – zuweilen auch Wiederholungen – werden immer länger. Nach 500 Seiten Stadtgeschichte will er dann noch rasch einige Lehren aus der Geschichte nachschieben. Ja, sicher müssen wir die Stadt der Zukunft nicht in den Kategorien der autogerechten Stadt denken, sicher brauchen wir kompakte Stadtstrukturen. Und niemand bezweifelt, dass professionelle Planer auch viel von der Spontaneität, der Planung von unten in den Selbsthilfestädten des globalen Südens lernen können. Aber Visionen für zukunftsfähige Stadtentwicklung sind gerade im letzten Jahrzehnt von Stadtplanern schon beispielhafter und konkreter formuliert worden.

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