Die selektive Praxis des Völkerstrafrechts

Wolfgang Kaleck
Mit zweierlei Maß
Der Westen und das Völkerstrafrecht

Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012,
144 Seiten, 15,90 Euro


Von einer universellen Anwendung des Völkerstrafrechts kann laut Wolfgang Kaleck keine Rede sein. Er plädiert dafür, es dennoch zu nutzen, wo es sinnvoll scheint, und zugleich die herrschende Doppelmoral anzuprangern.

Wolfgang Kaleck stellt dem internationalen Strafrechtsvollzug ein schlechtes Zeugnis aus, doch kein so schlechtes, wie der Titel des Buches nahelegt. Der Autor ist Rechtsanwalt und hat unter anderem Politiker der USA wegen Folter im Irak und in Guantanamo bei der Bundesanwaltschaft angezeigt. Er bilanziert die Ansätze, schwere Verstöße gegen internationale Normen wie Völkermord und Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen – sei es vor nationalen Gerichten, vor speziellen Tribunalen oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag.

Kaleck zeichnet das Völkerstrafrecht quasi als Welt-Rechtsordnung im Werden. Sein Rückblick auf ihren Beginn, die Kriegsverbrecher-Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg, ist sehr lesenswert. Er verweist dann darauf, dass die Verbrechen der Europäer während der Kolonialkriege und die der Amerikaner im Vietnam-Krieg ungesühnt geblieben sind. Die Tribunale zu den Verbrechen in Jugoslawien und Ruanda in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hätten trotz ihrer Mängel – so konnte nicht ernsthaft gegen Beteiligte aus NATO-Staaten ermittelt werden – eine Eigendynamik entfaltet und bewiesen, dass internationale Strafverfahren möglich sind. Auch nationale Gerichte griffen politische Verbrechen in anderen Ländern auf, insbesondere die spanische Justiz die der früheren Diktatoren von Chile und Argentinien. Das hat laut Kaleck diese Länder veranlasst, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. In anderen Fällen, vor allem wenn US-Politiker beschuldigt wurden, wurden solche Verfahren aber blockiert.

Der IStGH geht laut Kaleck ebenfalls doppelt selektiv vor. Erstens bei der Wahl seiner Fälle: Bei den ersten drei – Kongo, Darfur und der Lord’s Resistance Army (LRA) in Uganda – handele es sich um besonders schwere Verbrechen, doch darüber hinaus sei die Auswahl diskutabel. Statt zur Elfenbeinküste oder zu Libyen könne man ebenso zu Myanmar, Sri Lanka, Syrien oder Palästina ermitteln. Zweitens wähle der IStGH selektiv aus, welche Täter jeweils belangt werden. So habe er bei den Verbrechen im Kongo die Regierungen dieses Landes sowie Ugandas und Ruandas geschont. Allerdings lastet Kaleck diese Mängel nur zum kleineren Teil dem IStGH selbst an. Die Staaten – nicht nur des Westens – ließen unabhängige Ermittlungen nur in engen Grenzen zu, der IStGH müsse politische Rücksichten nehmen.

Kaleck plädiert für einen pragmatischen Ansatz: Doppelstandards anprangern, aber nicht auf ihre Beseitigung warten, sondern Chancen für Strafprozes-se nutzen, soweit das im Einzelfall sinnvoll scheint. Er sieht die Strafverfolgung nicht als Selbstzweck, sondern fordert, genau zu prüfen, was sie für eine Gesellschaft im Einzelfall bewirkt hat und welche anderen Arten der Aufarbeitung von politischen Verbrechen entstanden sind. Über diese Erfahrungen sagt er aber wenig: Das Buch blickt nicht auf betroffene Gesellschaften, sondern auf die Strafverfolger. Dazu gibt es einen guten Überblick.

Den grundsätzlichen Einwand, dass man Gewalttätern oft als Preis des Friedens eine Amnestie anbieten muss und die Drohung mit Strafverfolgung deshalb Friedensschlüsse verhindert, weist Kaleck zurück. Sein Argument, solche Warnungen hätten sich im Nachhinein fast nie bestätigt, überzeugt aber nicht ganz. Bisher sind die meisten Kriegsverbrecher erst nach ihrer Niederlage angeklagt worden und Diktatoren erst lange, nachdem sie ihre Macht im Vertrauen auf Straflosigkeit aufgegeben hatten. Ob die Ausnahmen wie der Präsident des Sudan und der Führer der LRA, gegen die der IStGH Haft befehle erlassen hat, am Ende die Befürworter oder die Gegner von Strafverfolgung in laufenden Konflikten bestätigen, kann man noch nicht wissen.


Bernd Ludermann

 

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