Der Kampf gegen die Stimmen im Kopf

Rund 450 Millionen Menschen leiden weltweit an psychischen und neurologischen Störungen wie Schizophrenie, Depression und Epilepsie. In Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen haben sie wenig Chancen auf eine psychiatrische Behandlung – das gilt auch für die Philippinen. Die Betreuung der Kranken in ihren Familien und Gemeinschaften erscheint erfolgversprechend, befindet sich aber noch im Aufbau.

Plötzlich verzerrt ein Zucken ihr Gesicht. Celeste Pelantic stockt einen kurzen Moment, dann spricht sie weiter. Ihre Stimme klingt klar, ihre Augen blicken ruhig hinter den runden Brillengläsern. Die 33-Jährige leidet unter chronischer Schizophrenie. Die Psychose brach aus, als sie gerade das College beendet hatte. 21 war sie damals. „Ich habe so viele Stimmen gehört, dass ich nicht mehr schlafen konnte“, erzählt sie. Wieder dieses Zucken – wohl eine Folge der Psychopharmaka, die sie regelmäßig nehmen muss.

Denn eigentlich hat Celeste Pelantic Glück: Sie ist in psychiatrischer Behandlung. Einmal im Monat fährt sie zusammen mit ihrer Mutter von ihrem Wohnort Ligao in der Region Bicol im Süden der philippinischen Insel Luzon in das rund anderthalb Stunden entfernte Tabaco. Im Zentrum für psychische Erkrankungen „Holy Face“ kontrolliert eine Psychiaterin ihren Zustand und verschreibt die Medikamente, die die Stimmen zum Schweigen bringen. Die Medizinerin ist eine von insgesamt sieben psychiatrischen Fachärztinnen und Fachärzten in der Region Bicol – für rund zehn Millionen Menschen.

In anderen Teilen der Philippinen sieht es nicht besser aus. Auf knapp 100 Millionen Einwohner kommen insgesamt gerade einmal 400 Psychiater, und davon praktiziert fast jeder sechste im Großraum der Hauptstadt Manila. Wer in einer abgelegenen Provinz depressiv wird oder Halluzinationen bekommt, hat schlechte Chancen auf eine angemessene Behandlung – vor allem, wenn er arm ist. Therapien und Medikamente gegen chronische Krankheiten werden weder von der staatlichen Sozialversicherung „PhilHealth“ noch vom privaten „Social Security Service“ gedeckt und müssen in den meisten Fällen selbst bezahlt werden.

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".

Die Situation auf den Philippinen ähnelt der anderer Länder mit geringem oder mittlerem Einkommen: Psychisch Kranke werden schlecht versorgt. Dabei zählen neurologische und psychische Störungen wie Schizophrenie, Depression und Epilepsie laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu den führenden Ursachen für Tod und Behinderung auch in Entwicklungs- und Schwellenländern. Weltweit leiden daran rund 450 Millionen Menschen. Psychische Erkrankungen bringen nicht nur die Patienten und ihre Familien in einen Teufelskreis aus Krankheit und Armut, sondern behindern die soziale und ökonomische Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Die WHO hat deshalb 2008 ein Aktionsprogramm (mental health Gap Action Programme) gestartet, um die Behandlung psychisch Kranker besser in den nationalen Gesundheitsprogrammen und den Basisgesundheitsdiensten zu verankern. In Schwellenländern wie Brasilien, Indien und Thailand, aber auch in ärmeren Ländern wie Nigeria und Äthiopien verzeichnet sie bereits Fortschritte.

Auf den Philippinen hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren ebenfalls etwas getan – auch wenn es nach Ansicht von Experten viel zu langsam voran geht und ein Gesetzentwurf, der die Rechte von psychisch Kranken, ihre Behandlung und deren Finanzierung regelt, gerade im Parlament gescheitert ist. Bis zu dem schweren Erdbeben auf der Insel Luzon im Juli 1990 wurden psychisch Kranke nur in geschlossenen Einrichtungen behandelt. Nach der Katastrophe, die viele Menschen traumatisiert hat, organisierte die Regierung psychosoziale Hilfe vor Ort. „Damals hat sich das System geöffnet“, sagt Wilfredo Reyes, der zu dieser Zeit für das philippinische Gesundheitsministerium gearbeitet hat und inzwischen bei der Christoffel-Blindenmission (CBM) für Projekte der seelischen Gesundheit in dem Inselstaat zuständig ist. Man habe erkannt, wie wichtig die Betreuung von psychisch Kranken in ihren Gemeinschaften ist, um sie zu stabilisieren und ihre Ausgrenzung zu verhindern. Seit 2008 ist das die offizielle Politik des Gesundheitsministeriums. Doch es sei ein harter Kampf, sie durchzusetzen, erklärt Reyes.

Wie hart, wird bei einem Besuch in der psychiatrischen Abteilung des medizinischen Zentrums der Region Bicol in Naga klar. Anders als „Holy Face“, das von einem belgischen Orden getragen wird und vor allem von Spenden seiner ausländischen Partnerorganisationen und den Beiträgen der Patienten lebt, ist es eine staatliche Einrichtung. Hier sind düstere Klischees von der Psychiatrie in ärmeren Ländern Wirklichkeit. Etwa 30 Patienten sind in einem rund 60 Quadratmeter großen Raum zusammengepfercht. Die Männer drängen sich an die Gitterstäbe, sie rufen und winken. Es stinkt nach Schweiß. Kein Stuhl, kein Schrank, kein Bett, an einzelnen Haken in den nackten Wänden hängen Kleider.
Für 150 Patientinnen und Patienten hat die Klinik Platz, zurzeit werden 215 behandelt – vor allem mit Psychopharmaka. Für weitere Therapien fehlen Geld und Personal. Zwischen zwei Monaten und 18 Jahren bleiben die Frauen und Männer hier. Die einzige Sozialarbeiterin der Klinik hat für Hausbesuche keine Zeit. Ob die Kranken nach der Entlassung ihre Medikamente regelmäßig weiter nehmen und ob sie in ihren Familien und Gemeinschaften wieder Fuß fassen können, wird nicht verfolgt.

Der Staat fördert fast nur die großen Kliniken

Ein Grund dafür, dass die Reform des Systems nur schleppend vorankommt, ist die Förderpolitik des Gesundheitsministeriums. Nur fünf Prozent seines Haushaltes gibt es für seelische Gesundheit aus und das Geld geht noch immer vor allem an die großen Krankenhäuser in den Städten. Die ambulante Behandlung vor Ort kommt zu kurz. Ein absolut falsches Signal, findet Benny Vicente. Der Psychiater leitet die älteste und mit 4200 Betten größte Psychiatrie des Landes, das nationale Zentrum für psychische Gesundheit (NCMH) in Manila. „Das Ministerium vernachlässigt die Behandlung und die Prävention psychischer Erkrankungen“, kritisiert Vicente. Eine Einweisung in die Psychiatrie sollte aus seiner Sicht nur der letzte Ausweg sein, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

Vor fünf Jahren hat er deshalb eine Abteilung für Akut-Patienten eingerichtet. Sie werden zunächst einige Tage zur Beobachtung dabehalten und bekommen Medikamente, in einigen Fällen werden Elektroschocks verabreicht – eine Methode, die laut Studien mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt. Bei einer Besserung der Symptome dürfen sie wieder nach Hause. Vicente weiß aus langjähriger Erfahrung, wie schädlich sich ein längerer Klinik-Aufenthalt auf das weitere Leben der Patienten auswirkt. „Manche von ihnen möchten nicht entlassen werden“, sagt er. „Sie haben hier ihre geordnete Umgebung, Arzneimittel, Essen. Draußen wissen sie nicht wohin. Sie sind für immer als psychisch krank gebrandmarkt.“

Vicente will deshalb die psychiatrische Versorgung in den Regionen außerhalb der großen Städte fördern und die vor einigen Jahren aus Geldmangel geschlossenen Zweigstellen seines Zentrums wiederbeleben. Dazu sucht er den Schulterschluss mit anderen Fachleuten von nichtstaatlichen Organisationen, der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Sektor. Die Epidemiologin Dina Nadeera von der Universität der Philippinen fordert ebenfalls grundlegende Änderungen – sowohl in den Institutionen als auch in der Betreuung der Patienten vor Ort. „Beide Dienste müssen parallel entwickelt werden“, sagt sie, und vor allem der Übergang müsse besser gelingen. Sechs Monate nach ihrer Entlassung werde ein Viertel der Patienten des NCMH wieder eingewiesen, nach zwölf Monaten sei es sogar ein Drittel, hat die Wissenschaftlerin herausgefunden. Das zeige, dass die Wiedereingliederung der Kranken in ihre Dörfer oder Stadtviertel in vielen Fällen scheitert.

Sie müssten viel besser auf ihre Heimkehr vorbereitet werden, betont Nadeera, etwa indem sie etwas lernen, womit sie Geld verdienen und in ihrer Gemeinschaft Anerkennung finden können. Nadeera denkt an Jobs im Umweltbereich, etwa Abfallmanagement oder die Pflege von Hausgärten. In den stationären Einrichtungen in den Philippinen wird eine solche Form der Arbeitstherapie nicht angeboten. Zwar produzieren etwa im NCMH in Manila Patientinnen Papaya-Seife, von deren Erlös sie einen kleinen Anteil erhalten – aber das qualifiziert sie nicht für einen Job außerhalb der Psychiatrie.

Mindestens genauso wichtig ist es jedoch, die Vorurteile gegenüber psychisch Kranken in Familien und Gemeinschaften auszuräumen. Noch immer werden Menschen angekettet, eingesperrt und gemieden, weil sie sich manchmal seltsam verhalten, laut mit sich selbst reden oder aggressive Anfälle bekommen. Der Teufel habe von ihnen Besitz ergriffen, sie seien verhext oder verflucht, heißt es oft. Die Philippinen sind mehrheitlich katholisch, aber der Glaube an Geister ist noch sehr lebendig. Meistens werde deshalb zuerst ein traditioneller Heiler aufgesucht, erzählt Wilfredo Reyes von der CBM. Wenn der nicht weiterkomme, überweise er an einen Psychiater – oder verabreiche selbst eine oft gefährliche Mischung von Medikamenten und Kräutern.

Familien fürchten schiefe Blicke von Nachbarn und Freunden

Das Stigma, mit dem psychische Krankheiten behaftet sind, ist zäh. Psychiater berichten übereinstimmend, dass viele Familien die schizophrene Tochter oder den depressiven Sohn am liebsten in einer psychiatrischen Klinik abgeben und nichts mehr mit ihnen zu tun haben möchten. „Sie fürchten, ausgegrenzt zu werden, schämen sich oder sind einfach hilflos“, sagt NCMH-Direktor Vicentes. Seine Klinik versucht, mit Familien-Sprechtagen, Aufklärung und Beratung die Verwandten in die Behandlung der Kranken einzubeziehen. Akut-Patienten werden nur aufgenommen, wenn sie von einem „Aufpasser“ aus der Familie begleitet werden. Offen bleibt, was mit denen geschieht, die keine Familie mehr haben. Celeste Pantelic aus Ligao hat auch in dieser Hinsicht Glück gehabt: Ihre Familie hat sie wieder aufgenommen und kümmert sich um sie – trotz schiefer Blicke von Nachbarn und Verwandten, wie ihre Mutter Merry erzählt. Damit das zur Regel wird, engagieren sich seit einigen Jahren auch NGOs für die Integration von psychisch Kranken in ihre Familien und Gemeinschaften. Auf der lokalen Ebene können sie auf bewährte Basisgesundheitsdienste zurückgreifen, etwa die ehrenamtlichen Gesundheitshelfer, die in jedem Dorf oder Stadtviertel (Barangay) ihren Dienst tun.

Sie bekommen eine geringe Aufwandsentschädigung von 1000 bis 2000 Pesos (18 bis 36 Euro) im Monat und kümmern sich um die körperliche und nun auch um die psychische Gesundheit der Familien in ihrem Viertel. Ihr Vorteil: Sie sind mit den meisten lange und gut bekannt und genießen großes Vertrauen, so dass sie auch heikle Themen wie Schlaflosigkeit, Schuldgefühle, Selbstmordgedanken oder Halluzinationen, die auf eine psychische Erkrankung hindeuten, zur Sprache bringen können. Außerdem werben sie für einen gesunden Lebensstil mit dem Ziel, psychische Erkrankungen etwa in Folge von Drogenmissbrauch von vorneherein zu verhindern.

In Naga in der Region Bicol hat die Stiftung „Help Learning Center“ im Stadtviertel Cararayan, nicht weit von der staatlichen Psychiatrie entfernt, ein solches Projekt gestartet. Die acht ehrenamtlichen Gesundheitshelfer des rund 9000 Einwohner zählenden Viertels sind darin geschult worden, psychische Erkrankungen möglichst früh zu erkennen. Sie bieten selbst Beratung an und stehen in engem Kontakt mit den Experten „Help Learning Center“ und dem Arzt Joframel Paz, der bei der Kommune beschäftigt ist. Der Allgemeinmediziner hat sich über psychische Krankheiten weitergebildet und behandelt einmal im Monat zusätzlich zu seinen üblichen Sprechstunden chronisch Schizophrene, Manisch-Depressive oder Epileptiker.

Therapien nach westlichem Vorbild spielen keine Rolle

Seitdem hätten sich bei vielen Patienten die Symptome „dramatisch“ verbessert, berichtet Paz, dem die Begeisterung für seine Arbeit anzumerken ist. Der Draht zu ihm ist kurz: Wenn die Bewohner des Stadtviertels Hilfe brauchen, weil einer der rund 30 psychisch Kranken in ihrer Mitte aggressiv wird oder sich auffällig verhält, schicken sie ihm einfach eine SMS. Auch der Bürgermeister von Naga, John Bongat, steht hinter dem Projekt und unterstützt „Help Learning Center“ aus seinem knappen Etat mit 750.000 Pesos (13.500 Euro) im Jahr. Für ihn sei es eine „Gewissensfrage“, dass die Lokalverwaltungen dort helfen, wo die nationale Förderpolitik Lücken hinterlässt, fügt er hinzu.

Das sehen die wenigsten seiner Kollegen so. Doch ihre Unterstützung ist unerlässlich, wenn die gemeindebasierte Behandlung von psychisch Kranken langfristig Erfolg haben soll. „Die Kommunen dürfen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden“, betont Wilfredo Reyes. „Sie müssen ihre Angebote verbessern, die Medikamente bezahlen und ihre Ärzte müssen die Behandlung übernehmen.“ Aber auch bei den Ärzten ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn anders als Joframel Paz aus Naga sind viele Allgemeinmediziner nicht bereit, psychiatrische Patienten zu behandeln, weiß Reyes aus leidvoller Erfahrung. Zu zeitaufwendig, zu kompliziert – und außerdem hat die Psychiatrie als Fachgebiet einen schlechten Ruf. So erklärt sich der Psychologe auch, dass Nachwuchsmediziner kein Interesse haben, sich darauf zu spezialisieren.

Ob Klinik oder Kommune: Psychotherapien wie Psychoanalyse, Verhaltens- oder Gesprächstherapie nach westlichem Vorbild spielen auf den Philippinen und in anderen asiatischen Ländern kaum eine Rolle. Es fehle an ausgebildeten Fachleuten und nur Wohlhabende könnten sie sich leisten, erläutert Reyes. Außerdem verstehe sich der Einzelne eher als Teil einer Gemeinschaft denn als Individuum. Vertraulichkeit zählt wenig – auch Celeste Pantelic erzählt ihre Geschichte in einem Raum voller Menschen. Und selbst wenn sie vielleicht mehr Glück gehabt hat als andere in ihrer Lage, sind ihre Zukunftsaussichten nicht besonders rosig. „Ja“, sagt die studierte Ingenieurin, „ich würde gerne wieder arbeiten. Aber ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“ Dieses Mal ist das Zucken so stark, dass es ihren ganzen schmalen Körper schüttelt.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2012: Holz: Sägen am eigenen Ast
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