Erzählen im Schatten der Geschichte

Juden werden mit ihrer Vergangenheit in Europa konfrontiert – dieses Thema behandeln viele jüdischstämmige Autoren aus Brasilien. Auch wenn sie von der Zeit der Militärdiktatur erzählen, schlagen sie oft eine Brücke zur Alten Welt, aus der die jüdischen Einwanderer gekommen sind.

Mit etwas mehr als 100.000 Mitgliedern haben die jüdischen Gemeinden Brasiliens eine überschaubare Größe. Dabei gab es wiederholt Einwanderungswellen – von den sephardischen Juden, die nach der „Entdeckung“ Amerikas aus Portugal und Spanien über den Atlantik fuhren, über die aschkenasischen Juden, die vor den Pogromen in Osteuropa flohen, bis hin zu den Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager, die eine neue Heimat in Übersee suchten. Anlässlich des brasilianischen Gastlandauftritts bei der Frankfurter Buchmesse liegen mehrere Romane vor, die sich direkt oder indirekt mit dem Judentum im größten Land Lateinamerikas beschäftigen.

An Moacyr Scliar führt bei dem Thema kein Weg vorbei. Der 2011 verstorbene Autor hat in mehr als 100 Büchern immer wieder über das jüdische Leben in der brasilianischen Diaspora geschrieben. Besonders interessierten ihn Fragen der Identität und der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft. Sein wohl berühmtester Roman „Der Zentaur im Garten“ wurde 2013 neu aufgelegt. In dem Ende der 1970er Jahre entstandenen Buch erzählt Scliar die Geschichte von Guedali Tartakovsky, der in Gestalt eines Zentauren – mit dem Torso eines Menschen und dem Körper eines Pferdes – auf die Welt kommt. Man erkennt in ihm den Außenseiter, der nur teilweise ein „echter“ Brasilianer ist, oder – nur zum Teil ein Mensch.

In dem Roman finden sich zahlreiche Elemente des Magischen Realismus, jener für Lateinamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so typischen Gattung, bei der die Grenzen zwischen Mythos und Realität, zwischen Traum und Wirklichkeit aufgelöst werden. Moacyr Scliar nutzt sie zur Beschreibung der Assimilation seiner jüdischen Landsleute. Eine wunderbare Passage schildert, dass Guedali in einem Zirkus arbeitet. Dort gibt sich der Zentaur als Mensch aus, der in der Manege einen Zentauren gibt. Er spielt eine Scharade, um sein Doppelwesen zu kaschieren. Als diese Strategie nicht ausreicht, entschließt er sich gemeinsam mit einer Schicksalsgenossin zu einem chirurgischen Eingriff. Das Mischwesen soll zugunsten des menschlichen Anteils wegoperiert werden.

Wesentlich leiser und weniger humorvoll nähert sich der 1973 geborene Michel Laub den Unzulänglichkeiten menschlicher Erfahrung und Erinnerung. Der Roman „Tagebuch eines Sturzes“ erscheint zunächst als das Resultat eines Schreibversuchs: Weil der namenlose Ich-Erzähler unter Alkoholkonsum, Depressionen und Bindungsängsten leidet, beginnt er mit einer Schreibtherapie. Er notiert die Erinnerungen an seine Jugend und setzt sie in Beziehung zu den hinterlassenen Aufzeichnungen seines Großvaters und den Erzählungen seines Vaters. So entsteht aus einer Lebenskrise heraus das Bild dreier Figuren, die ähnlich unfähig sind, ihre Lebenserfahrungen zu verarbeiten und ihre Erinnerungen präsent zu halten.

Als Auschwitz-Überlebender, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Brasilien gekommen war, sprach der Großvater niemals über den Aufenthalt im KZ. Stattdessen malte er in seinen Kladden ein idealisiertes Bild von der neuen Heimat. Der Vater hält gleichsam in Vertretung für den Großvater die Erinnerungen an die Shoah hoch, doziert sogar am Esstisch über die Vernichtung der Vorväter. Später erkrankt er an Alzheimer und muss sich eingestehen, dass seine Erinnerungen verblassen.

Der Enkel wehrt sich anfangs gegen die Fixierung auf jüdische Themen, wird aber bald in ein eigenes Geflecht aus Schuld und Leid verstrickt: Zunächst lässt er gemeinsam mit jüdischen Schulkameraden einen nichtjüdischen Mitschüler bei einer Geburtstagsfeier hochleben, fängt ihn aber nicht auf, so dass der Junge schwer verletzt wird. Jahre später wird er auf einer christlichen Schule mit Hitler-Karikaturen provoziert, worauf er sich auf perfide Art rächt. Am Ende seines Tagebuchs, das er seinem ungeborenen Kind widmet, formuliert er die Erkenntnis, dass Vater und Großvater falsch mit ihren Erinnerungen umgegangen sind, und plädiert für einen offeneren und aufrichtigen Umgang.

Ronaldo Wrobels (Jahrgang 1968) historischer Roman „Hannahs Briefe“ liefert ein Sittengemälde aus dem Rio der 1930er Jahre, als Brasilien vom autokratischen Präsidenten Getúlio Vargas regiert wurde. Um seine Macht zu stärken, lenkt Vargas Kritik und Unmut auf die jüdischen Einwanderer, die er ausspionieren und überwachen lässt. Allerdings stellt die jiddische Sprache die Geheimpolizei vor ein Problem, weshalb sie den aus Polen stammenden jüdischen Schuhmacher Max Kutner als Übersetzer zwangsverpflichtet. Kutner kollaboriert widerwillig und erschließt seinen Führungsoffizieren so einen Großteil der Erfahrungswelt der Menschen jener Zeit. Mit zunehmender Emphase verfolgt der Übersetzer-Spitzel die Korrespondenz zwischen den Schwestern Hannah und Guita, verliebt sich in Hannahs Briefstimme und setzt alles daran, sie zu finden.

Ausgehend von der Identität dieser Frau malt der Autor ein Panoramabild der jüdischen Einwanderergesellschaft. Darauf abgebildet sind die jüdischen Frauen, die von Mitgliedern der Zuhälterorganisation Zwi Migdal mit falschen Versprechen aus Osteuropa nach Brasilien gelockt und zur Prostitution gezwungen wurden. Auf Hilfe von den anderen Juden konnten die „Polackinnen“ nicht hoffen. Sie mussten sogar einen eigenen Friedhof eröffnen, weil sie auf den Friedhöfen der Synagogengemeinden nicht bestattet werden durften. Ronaldo Wrobel nimmt in seinem unterhaltsamen Roman die Geschichte der unmöglichen Liebe zwischen Max und Hannah als Ausgangspunkt, um die großen weltanschaulichen Konflikte der späten 1930er Jahre darzustellen. Deren verbrecherische Höhepunkte fanden zwar in Europa statt, aber auch Lateinamerika spürte leidvoll die Auswirkungen.

Es fällt auf, dass viele Romane eine Brücke zwischen der Alten und der Neuen Welt bauen. Fast immer werden Geschichten erzählt, in denen jüdische Figuren mit ihrer Vergangenheit in Europa konfrontiert werden. Das zeigt sich selbst in „K. oder Die verschwundene Tochter“ des 1937 geborenen Bernardo Kucinski, der sich mit der Verfolgung linksgerichteter Oppositioneller während der Militärdiktatur (1964-85) beschäftigt. Der atmosphärisch ungemein dichte Roman, hinter dem man mit großer Sicherheit einen Tatsachenbericht vermuten darf, handelt von den Versuchen eines älteren jüdischen Brasilianers mit polnischen Wurzeln, seine verschwundene Tochter zu finden. Die junge Frau führte ein Doppelleben – hier Universitätsdozentin einer Naturwissenschaft, dort Mitglied der Stadtguerilla –, das der Vater dechiffrieren muss. Dabei helfen ihm seine Erfahrungen als zionistischer Widerstandskämpfer im Polen der 1930er Jahre. Er kann nicht umhin, die staatliche Repression in Brasilien mit dem nationalsozialistischen System, das für die Auslöschung der gesamten Familie seiner Frau verantwortlich war, zu vergleichen: Während die Nazis über ihre Opfer noch Buch geführt hätten, vernichteten die brasilianischen Militärs ihre Gegner und spielten ein zynisches Spiel mit deren Angehörigen. Dazu gehören die Verweigerung von Auskünften, Leugnen der Verfolgung und Psychoterror gegen alle, die Aufklärung fordern.

erschienen in Ausgabe 10 / 2013: Landrechte: Auf unsicherem Boden
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!