Fantasien vom letzten Gefecht

Die Zensur würde ihre Geschichten niemals freigeben. In China toben sich die Autoren von Science-Fiction-Romanen deshalb im Internet aus. Meistens geht es um Krieg – und um eine glorreiche Zukunft für das Reich der Mitte.

Man schreibt das Jahr 2049. Die Erfolge der chinesischen Wirtschaft haben die anderen Großmächte der Welt so sehr beunruhigt, dass die USA, Japan und Russland ein Bündnis schließen und gemeinsam in China einfallen. In den Ebenen des chinesischen Nordostens, wo japanische Truppen und amerikanische Kampfjets die chinesische Infanterie attackieren, werden gewaltige Schlachten ausgetragen. Obwohl die chinesische Armee auf den Überfall nicht vorbereitet war, gelingt ihr doch ein erfolgreicher Gegenangriff: Sie setzt Panzer ein, die sich in die Luft erheben können. Ihre Strategie stützt sich auf die Erfahrungen aus dem „Antijapanischen Krieg“ und dem „Verteidigungskrieg gegen die amerikanischen Aggressoren“, die im Westen Zweiter Weltkrieg und Koreakrieg genannt werden.

Autoren

Isaac Stone Fish

ist Redakteur bei der Zeitschrift „Foreign Policy“.

Helen Gao

ist freie Journalistin und lebt in Peking.

Davon handelt der Fortsetzungsroman „Der letzte Gegenangriff“. Er wird auf der chinesischen Webseite „Blut und Eisen“ veröffentlicht, die sich auf Kriegsromane spezialisiert. In einer der Folgen verschaffen sich Hacker im Auftrag der amerikanischen Regierung Zugang zum Netzwerk der chinesischen Streitkräfte und zünden versehentlich eine gegen die USA gerichtete chinesische Atomrakete. Den im Netz angegebenen Lebensdaten des anonymen Autors zufolge ist er ein ehemaliger Offizier der Volksbefreiungsarmee, der heute einen Panzerspähtrupp der chinesischen Streitkräfte leitet. Er nennt sich „der alte Stabsoffizier“, und erklärt in einem Interview, dass es ihm Spaß mache, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Er glaubt auch, dass die Dinge, die er beschreibt, sich eines Tages tatsächlich so zutragen könnten. „Ist es denkbar, dass China eingekreist und von allen Seiten angegriffen wird? Allerdings!“

Im Internet gibt es tausende chinesischer Fantasy-Romane über den Krieg. Die meisten führen ein Schattendasein, aber manche kommen so gut an, dass sie von Millionen gelesen werden. China ist auf dem Weg eine Supermacht zu werden und seine militärischen Ambitionen sind noch nicht klar umrissen. Staatspräsident Xi Jinping hat die inhaltlich unbestimmte Parole eines „chinesischen Traums“ ausgegeben und der riesige Propagandaapparat der Regierung will die Bürger dazu motivieren, an der Konkretisierung dieses Slogans mitzuarbeiten. In den Fantasy-Romanen artikulieren sich die kriegerischen Träume der Chinesen.

China siegt immer dank seiner hoch entwickelten Rüstungstechnik

Solche Romane gibt es in zwei Varianten. Die meisten spielen in der Vergangenheit und handeln von Epochen, in denen ausländische Invasoren den Chinesen traumatische Niederlagen beibrachten. „Die Science-Fiction-Literatur antwortet auf die Sehnsucht der Leser, die Realität zu überwinden, und in der Realität ist China häufig auf der Verliererseite“, sagt Wu Yan, ein Professor der Pädagogischen Universität Peking, der sich auf die chinesische Science-Fiction spezialisiert hat. Die militärischen Fantasy-Romane gehören zu diesem Genre, auch wenn – verglichen mit anderer Science-Fiction-Literatur – internationale Konflikte hier eine wichtigere Rolle spielen als technologische Errungenschaften. Manchmal begeben sich die Protagonisten auf eine Zeitreise aus der Gegenwart in die Vergangenheit und tragen dazu bei, China vor demütigenden Niederlagen zu bewahren.

So wird in „1894: China erhebt sich“ ein gescheiterter Geschäftsmann in das Jahr 1883 versetzt, in dem der Chinesisch-Französische Krieg begann. Er wird General und besiegt die französischen Angreifer. Der Roman „Nieder mit Japan und den japanischen Piraten“ erzählt, wie ein Major in den Zweiten Weltkrieg versetzt wird und die japanischen Truppen mit Hilfe heutiger Militärtechnologie aus der Mandschurei vertreibt. Andere Romane wie „Der letzte Gegenangriff“ schildern eine nahe Zukunft, in der andere Großmächte sich gegen die zunehmende wirtschaftliche und militärische Stärke Chinas zur Wehr setzen und es mit kriegerischen Mitteln zu bezwingen suchen. Doch setzt sich China dank seiner cleveren Militärstrategie und seiner hoch entwickelten Rüstungstechnik stets erfolgreich gegen diese Bedrohungen durch, und am Ende erwirbt es sich den Respekt und die internationale Geltung, die es verdient.

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Fantasy-Romane mit kriegerischen Themen sind nur ein Teil des reichhaltigen Angebots an Kriegsliteratur. Doch anders als in den USA, wo Tom Clancy schildern darf, wie Washington einen Angriff auf Peking unternimmt, verhindert die Zensur in China, dass solche Geschichten als Buch veröffentlicht werden. „Die Verleger erklärten mir, dass Romane über Kriege zwischen verschiedenen Ländern nicht in Frage kommen“, sagt Zheng Jun, ein Science-Fiction-Autor aus Chongking, der auch eine Agentur betreibt und die Veröffentlichung von an die hundert Sci-Fi-Romanen pro Jahr vermittelt. „China darf nur Außerirdische oder ein fiktives Land bekämpfen“, sagt er. Deshalb ging es in der „Golden-Bullet-Serie“ aus dem Jahr 2003 – der letzten größeren Fantasy-Serie mit kriegerischem Inhalt, die in Buchform veröffentlicht werden durfte – um Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Außerirdischen oder um den Kampf gegen Terroristen unbestimmter Herkunft.

Die Reflexion über die nationale Identität Chinas spielte eine wichtige Rolle

Im Internet wird weniger streng zensiert. „Blut und Eisen“, die größte Webseite dieser Art, bietet etwa 2500 Kriegsromane, die gratis heruntergeladen werden können; sie wird im Durchschnitt rund 30 Millionen Mal pro Monat angeklickt. Ihr Name bezieht sich auf eine berühmte Rede von Otto von Bismarck aus dem Jahr 1862, in der es um die „Deutsche Frage“ ging. „Bei den Chinesen, die sich für militärische Themen interessieren, hat Bismarck einen guten Ruf“, erklärte Jiang Lei, der Gründer der Webseite, 2012 in einem Interview in der chinesischen Zeitschrift „People Weekly“.

Die chinesische Fantasy-Literatur ist in China tief verwurzelt und reicht zurück bis zu dem Roman „Die Reise nach Westen“ aus dem 16. Jahrhundert, in dem ein Affe gegen Dämonen kämpft. Doch die Tradition der positiven oder negativen Utopien, die die westliche Science-Fiction beherrscht, gibt es in China noch nicht lange. Sie beginnt mit dem Buch „Die Zukunft des Neuen China“ von 1902 von Liang Qichao, einem bedeutenden Gelehrten aus dem frühen 20. Jahrhundert. Er beschreibt darin, wie China im Jahr 1962 aussehen wird, wenn sich die konstitutionelle Monarchie durchgesetzt hat. Liangs Schriften über die Notwendigkeit eines radikalen Wandels in China haben Mao Zedong stark beeinflusst: Ihn überzeugte die These, dass um der Zukunft willen in der Gegenwart Opfer gebracht werden müssen. Für die konstitutionelle Monarchie interessierte sich Mao allerdings weniger.

Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 setzte sich die kommunistische Ideologie auch in der Science-Fiction- und Fantasy-Literatur durch. Sie stellte sich nun die Aufgabe, „die künftige kommunistische Gesellschaft zu schildern, die den Klassenkampf überwunden hat und an der Versöhnung von Mensch und Natur arbeitet“, so heißt es in einem Essay des Sci-Fi-Experten Wu. In einem Interview nannte er als Beispiel die Erzählung „Ein kommunistisches Wunderland“, die 1958 während der Kampagne des „Großen Sprungs nach vorn“ geschrieben wurde und im Jahr 2000 spielt. Hier reist ein Arbeiter nach Peking und begegnet dort – inmitten von „üppigen Gemüsegärten“ und „vollautomatisierten Fabriken, die täglich Hunderttausende Tonnen Stahl produzieren“ – dem 107-jährigen Vorsitzenden Mao, dem er Bericht erstattet.

Die Reflexion über die nationale Identität Chinas spielte in diesen Romanen eine wichtige Rolle. „Schon seit dem Ende der Qing-Dynastie träumen die chinesischen Sci-Fi-Autoren den Chinesischen Traum“, schreibt Han Song, einer der bekanntesten chinesischen Vertreter des Genres, in einem Blog-Eintrag. „Doch jetzt stehen wir vor der Aufgabe, diesen Traum noch besser zu träumen.“ Er greift damit die Parole von Staatspräsident Xi Jinping auf, die er als Aufruf zu einer „großartigen Erneuerung der chinesischen Nation“ versteht. Viele denken dabei zurück an die Zeit des 18. oder auch des 8. Jahrhunderts, als China auf der Weltbühne eine wichtige Rolle spielte.

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In den Kriegsromanen des Fantasy-Genres werden die Chinesen vielfach als tapfere Krieger dargestellt, die sich den ausländischen Truppen und ihren Waffen unerschrocken entgegenstellen – ganz im Gegensatz dazu, wie sie sich real erleben. „Die modernen Chinesen sind in Wirklichkeit Post-Qing-Chinesen, denen der Kampfgeist abhanden gekommen ist“, schreibt der anonyme Autor von „Der letzte Gegenangriff“ in einem Blog-Eintrag. Der zur Schau gestellte Nationalstolz wird häufig begleitet von einem selbstkritischen Unterton. Han Songs Roman „2066: Roter Stern über Amerika“ erzählt von einer Kulturrevolution in den USA, während der Horden von jugendlichen Plünderern die Landbevölkerung drangsalieren. China ist zur wichtigsten Großmacht der Welt aufgestiegen und Japan ist nach einem Erdbeben vom Erdboden verschwunden. Der Protagonist, ein chinesischer Go-Spieler, bemüht sich in diplomatischem Auftrag, die im Zerfall befindlichen Vereinigten Staaten zur Zivilisation zurückzuführen. Oberflächlich betrachtet beschreibt der Roman Chinas machtvolle Zukunft und den Niedergang der USA. Doch man kann auch eine indirekte Kritik an der Fremdenfeindlichkeit und dem Versagen der Regierung während der chinesischen Kulturrevolution darin lesen.

Der beliebteste Titel wurde bereits über 140 Millionen Mal angeklickt

Viele dieser Bücher handeln auch davon, wie China dem Rest der Welt – manchmal mit gewaltsamen Mitteln – harmonischere Beziehungen aufzwingt. „Viele chinesische Science-Fiction-Autoren propagieren die Einigung der Welt“, sagt Professor Wu von der Pädagogischen Universität Peking. „Aber anscheinend sehen sie China in einer Außenseiterposition und glauben, dass es aus der Völkergemeinschaft ausgegrenzt wird.“ Der Autor von „Der letzte Gegenangriff“ stellt fest, dass andere Länder China im Lauf seiner gesamten Geschichte häufig Misstrauen und Feindseligkeit entgegengebracht haben: „Chinas riesige Bevölkerung ist seine größte Stärke, und deshalb wird es auch die ‚Gelbe Gefahr‘ genannt.“

Der Ausdruck „Gelbe Gefahr“ entstand Ende des 19. Jahrhunderts in den USA und bezog sich auf die mutmaßliche Bedrohung der westlichen Länder durch chinesische Arbeitsimmigranten. In China wird der Begriff gebraucht, um die Vorurteile und die Abwehrhaltung  der imperialistischen Großmächte des Westens gegenüber der Volksrepublik zu veranschaulichen. Dem in Peking lebenden Dissidenten Wang Lixiong wiederum diente er als Titel seiner 1991 erschienen negativen Utopie „Die gelbe Gefahr“, die zu den erfolgreichsten chinesischen Kriegsromanen im Fantasy-Genre zählt. Allerdings ist das Buch in China verboten und wird hauptsächlich im Ausland verkauft. Es  beschreibt, wie nach dem Massaker auf dem Tian’anmen-Platz 1989 ein Bürgerkrieg ausbricht, in dessen Folge Hunderte von Millionen Chinesen ins Ausland flüchten und die internationale Politik allein durch ihre große Zahl ins Chaos stürzen.

Wie Han Songs „2066“ handeln viele Fantasy-Romane von der Zerstörung Japans. Der beliebteste Titel auf der Webseite „Blut und Eisen“, der bereits über 140 Millionen Mal angeklickt wurde, lautet „Der Chinesisch-Japanische Krieg als Auftakt zum Dritten Weltkrieg“. Gao Yan, eine junge Frau, die in der Nähe einer Kaserne aufgewachsen ist, begann ihn 2005 unter dem Pseudonym „Die letzte Verteidigerin unserer Prinzipien“  zu schreiben. In diesem Roman bricht im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nach einem Seegefecht zwischen Japan und Taiwan ein großer chinesisch-japanischer Krieg aus.

„Der Anfang ist eindrucksvoll und realistisch“, schrieb ein Leser in seiner Bewertung der Geschichte. „Es herrschte noch nie viel Vertrauen und Verständigung zwischen uns und den Leuten auf diesen Inseln. Vom Hass zwischen den beiden Völkern zu erzählen, ist nicht schwierig.“ Im Vorwort zu ihrem Roman bezeichnet Gao einen Krieg zwischen China und Japan als unvermeidlich: „China wird erst eine Supermacht werden, nachdem es das Hindernis Japan beiseite geräumt hat.“

Die Unzufriedenheit mit der chinesischen Armee ist ein weiteres gemeinsames Thema. Als der Autor von „Der letzte Gegenangriff“ auf das schnelle Wachstum und die Modernisierung der chinesischen Armee und ihrer Rüstung angesprochen wird, sagt er: „Ja, aber wir setzen sie nie ein.“ In einem Blog-Eintrag schildert er, wie China am Ende der Qing-Dynastie von den verbündeten ausländischen Mächten angegriffen wurde, und zieht Parallelen zur heutigen Zeit. „Kurz: Es ist dringend notwendig, sich einen Krieg vorzustellen, in dem China von allen Seiten attackiert wird.“

Aus dem Englischen von Anna Latz

Zusatzinformationen

Der Text ist zuerst in „Foreign Policy“ (USA) erschienen; © 2013, Foreign Policy.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2013: Landrechte: Auf unsicherem Boden
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