Rechenfehler mit schweren Folgen

Von Toni Keppeler

Das private Rentenversicherungsmodell, das Chile 1982 eingeführt hat, war ein hoch gelobtes Vorbild für zwei Dutzend weitere Länder. Doch die versprochenen Gewinne für Versicherte und den Staat sind nicht eingetreten. Die Rentenfonds waren schon in wirtschaftlich ruhigen Zeiten nicht sehr rentabel, und nun haben sie in der Finanzkrise hohe Verluste gemacht. Der Staat muss einspringen, um eine Zunahme der Armut unter älteren Menschen zu verhindern

Mit den Rentenversicherungen ist es wie mit den Banken: Lange wurde behauptet, die Privatwirtschaft verstehe von diesem Geschäft mehr als der Staat. Jetzt, in der weltweiten Finanzkrise, gilt das nicht mehr. Großbanken zählen ihre Verluste nur noch nach Milliarden und auch den privaten Rentenversicherungen geht es derzeit alles andere als gut. So haben die einst hoch gelobten chilenischen Rentenfonds allein von Ende September bis Ende Dezember vergangenen Jahres 19,5 Prozent ihres Wertes verloren. Zu Lasten der Versicherten: Sie werden, wenn sie in Rente gehen, entsprechend weniger Geld bekommen.

Doch schon vor der Finanzkrise war in Chile klar, dass der Staat einspringen muss, um die befürchtete massenhafte Altersarmut zu lindern. Kurz vor dem großen Crash trat eine Rentenreform in Kraft, die zusätzlich zum beitragsfinanzierten privaten System steuerfinanzierte solidarische Elemente einführt. Das ist ein Schritt zurück zum alten Wohlfahrtsstaat.

Dabei galt das chilenische Modell lange als Vorbild und wurde in rund zwei Dutzend Ländern Lateinamerikas und des ehemaligen Ostblocks kopiert. Das staatliche Rentensystem, das es in Chile bis 1981 gab, funktionierte ähnlich wie das in Deutschland: Die Beiträge, die Arbeiter und Angestellte einzahlten, wurden nicht gehortet, sondern sofort an die Rentner ausbezahlt. Das war ein Umlagesystem, das auf einem Generationenvertrag basierte - die jeweils wirtschaftlich Aktiven bringen die Rentenzahlungen auf - und aus Steuermitteln bezuschusst wurde, wenn nicht genug Geld für die Rentner zusammenkam. Zuletzt betrug das Defizit in der staatlichen chilenischen Rentenkasse 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das, sagten die Wirtschaftsberater des damaligen Militärdiktators Augusto Pinochet, sei zu hoch.

Pinochet hatte sich die Schüler des neoliberalen US-amerikanischen Wirtschaftsprofessors und Nobelpreisträgers Milton Friedman ins Land geholt. Die so genannten „Chicago Boys" durften ihre Theorien wie in einem großen Laborversuch in die Praxis umsetzen. Die Privatisierung der Rentenversicherung war ein Teil davon. Sie wurde im Mai 1981 mit dem Gesetzesdekret 3500 ohne jede demokratische Legitimation verordnet. Es war die bis dahin radikalste Umstellung eines Vorsorgesystems. Die staatliche Rentenkasse wurde aufgelöst. Seit Anfang 1982 sind alle Arbeitnehmer gezwungen, Beiträge an einen privaten Rentenfonds-Verwalter zu bezahlen. „Administradoras de Fondos de Pensiones" heißen diese Einrichtungen auf Spanisch, kurz: AFP.

Einzig für das Militär und die Polizei hat Pinochet eine Ausnahme zugelassen: Die Sicherheitskräfte, damals die Stützen seiner Diktatur, haben bis heute ganz traditionelle staatliche Rentenkassen nach dem Umlageverfahren. Alle anderen Arbeitnehmer bezahlen ihre Rentenbeiträge auf ein individuelles Konto bei einer AFP ihrer Wahl. Von ursprünglich 22 Fonds sind nach einer Reihe von Übernahmen und Fusionen 6 übriggeblieben. Die meisten gehören europäischen Großbanken: der spanischen BBVA, der britischen HSBC, der holländischen ING.

Die AFPs legen die Einlagen der Versicherten vor allem auf dem nationalen, zu einem geringeren Teil auch auf dem internationalen Kapitalmarkt an. Der Theorie nach bringt das doppelten Nutzen. Zum einen profitieren die Arbeitnehmer von der hohen Rendite dieser Anlagen. Zum anderen steht der chilenischen Wirtschaft ein immer größer werdender Topf für Investitionen zur Verfügung. Die AFPs sind die bei weitem größten Investoren im Land. Wenn die Wirtschaft brummt, sind die Arbeitsplätze sicher; es werden neue Stellen geschaffen, und das bedeutet mehr Beiträge für die Rentenfonds und damit mehr Kapital für die Unternehmen. Eine Spirale nach oben, die allen hilft. Das war der Plan. In Chile, einem Land mit knapp 17 Millionen Einwohnern, hatten die rund 8 Millionen Versicherten vor der Krise über 90 Milliarden US-Dollar zusammengespart. Zwischen September 2008 und Januar 2009 sind dann aber 18 Milliarden im Finanzloch verschwunden.

2008 war nicht das erste Jahr, in dem die AFPs Verluste für die Versicherten einfuhren. Auch in weltwirtschaftlich ruhigeren Zeiten war die Rentabilität der Fonds immer wieder in den roten Bereich gesackt. 1995 etwa lag das Minus bei 2,5 Prozent, 1998 bei 1,1 Prozent. Im langjährigen Durchschnitt schafften die Fonds eine Rendite von nur knapp über einem Prozent. Hätten die Versicherten ihre Beiträge statt dessen ganz konventionell auf Sparkonten mit dreimonatiger Kündigungsfrist angelegt, hätten sie im Durchschnitt mehr als fünf Prozent pro Jahr gewonnen.

Den Verwaltern der Rentenfonds schaden die dürftigen Ergebnisse nicht. Sie haben ihre sicheren Einnahmen. Die Versicherten bezahlen zehn Prozent ihres Bruttolohns auf ihr Rentenkonto ein und noch einmal drei Prozent an die AFP. Ein Prozent wird für verschiedene Versicherungen verwendet, zwei Prozent sind für die Verwaltung bestimmt, unabhängig von der Rentabilität der Fonds. Für Carlos Acevedo, Berater des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), ist dies ein wesentlicher Fehler des Systems: „Die AFPs können einfach dasitzen und nichts tun." Ihre Kommission erhalten sie in jedem Fall, und davon leben sie nicht schlecht.
Zwei Prozent des Bruttolohns sind die gesetzliche Höchstmarke für Verwaltungsgebühren. Theoretisch könnten die Fonds-Verwalter auch weniger verlangen. Doch alle sechs AFPs bewegen sich nahe am Limit. Sie machen sich nicht etwa gegenseitig mit niedrigen Quoten die Beitragszahler streitig, sondern teilen sich als Oligopol friedlich das sichere Geschäft. Zwei Prozent klingt niedrig, bezieht sich aber auf den Bruttolohn. Gemessen an den bezahlten Beiträgen sind es bis zu zwanzig Prozent. Tatsächlich verlangen chilenische Rentenfonds auf die einbezahlte Summe im Durchschnitt rund 18 Prozent Verwaltungsgebühr, etwa dreißig Mal mehr als andere Investitionsfonds. Dank dieser Gebühren lag die Eigenkapitalrendite der AFPs im langfristigen Mittel bei 27 Prozent - ein Wert, von dem andere Branchen nicht einmal zu träumen wagen. Die Beitragszahler haben keinerlei Einfluss darauf, wo und wie ihr Geld angelegt ist. Ihre Vertretung in den Aufsichtsräten der AFPs ist im Gesetz nicht vorgesehen. „Der Staat unterstützt hier Raub und Betrug", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Fernando Ortiz.

Die „Chicago Boys" hatten etwas anderes versprochen: Konkurrenz unter den AFPs um die niedrigsten Verwaltungsgebühren, bessere Renten für die Arbeitnehmer und weniger Kosten für den Staat. Alle drei Prognosen sind nicht eingetroffen. Die vorher angestellten Modellrechnungen waren davon ausgegangen, dass 80 Prozent der erwerbsfähigen Personen versichert sind (Reichweite) und in 80 Prozent ihres Arbeitslebens Beiträge bezahlen (Beitragsdichte). Die restlichen 20 Prozent waren für Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Krankheit oder der Kindererziehung einkalkuliert. Unter diesen Voraussetzungen, rechneten Pinochets Wirtschaftsberater vor, würden die Versicherten nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben 170 Monate lange eine Rente beziehen, die bei 80 Prozent ihres letzten Lohnes liege. Wer älter wird, muss Sozialhilfe beantragen.

Tatsächlich liegt die Reichweite seit 1975 bei knapp über 60 Prozent. Die Privatisierung der Rentenversicherung hat daran nichts geändert. Noch weiter bleibt die Beitragsdichte hinter den Prognosen zurück: Sie beträgt durchschnittlich 52 Prozent, wobei Männer während 60 Prozent ihres Arbeitslebens in die Rentenversicherung einzahlen, Frauen nur während 44 Prozent. Weil dieses Geld auf individuellen Konten angehäuft wird, erhalten Frauen später entsprechend weniger Rente. Kinder bekommen wird in diesem System bestraft. Nach heutigen Hochrechnungen werden Frauen, die zwischen 2020 und 2025 in Rente gehen, gerade einmal 28 Prozent ihres letzten Lohns bekommen. Männer kommen danach auf 51 Prozent. Die ursprünglich versprochenen 80 Prozent werden allenfalls ein paar männliche Akademiker mit stabilem Arbeitsleben übertreffen. Für sie sind rein theoretisch Renten von 110 Prozent des letzten Gehalts möglich. Dafür werden Frauen mit Grundschulabschluss im Durchschnitt nur 11 Prozent erhalten.

UNDP-Berater Acevedo zieht eine vernichtende Bilanz: „Es ist vernünftiger, sein Geld auszugeben, als es in einen Pensionsfonds einzubezahlen." Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass in Chile „selbst unter positiven Voraussetzungen ein ausschließlich kapitalgedecktes privates Rentensystem gesellschaftliche Verlierer produziert und reproduziert". Der Graben zwischen arm und reich wird nicht nur zementiert, er wird noch breiter und tiefer. Schon jetzt ist sicher, dass 46 Prozent der Männer und 61 Prozent der Frauen der Jahrgänge 1956 bis 1961 zu den Verlierern gehören werden: Als Rentner werden sie von ihrer AFP weniger bekommen als die staatlich garantierte Mindestrente.

Um die absehbare massenhafte Altersarmut zu lindern, hat das chilenische Parlament im vergangenen Jahr eine Rentenreform verabschiedet. Die führt zusätzlich zum weiterhin für alle obligatorischen privaten System solidarische Elemente ein, die aus dem Steueraufkommen finanziert werden. Danach bezahlt der Staat den ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung Zuschüsse zu ihrer mageren Rente oder eine Grundrente für den Fall, dass jemand aus dem privaten System gar nichts bekommt. Zudem gibt es eine staatliche Invaliditätsrente und Bonuszahlungen für Kinder. Bis zum Jahr 2012 wird der Empfängerkreis der staatlichen Zuschüsse auf die ärmsten 60 Prozent der Bevölkerung ausgeweitet.

Eine teure Reform, denn diesen Staatsausgaben stehen keine Einnahmen aus Rentenbeiträgen gegenüber. Dabei ist schon das private Vorsorgesystem für den Staat teuer genug. Anders als versprochen hat die Privatisierung der Rentenversicherung den öffentlichen Haushalt nicht entlastet. Im Gegenteil: Bis heute überweist das Finanzministerium Monat für Monat Geld an die AFPs. Denn ältere Arbeitnehmer haben vor der Umstellung 1981 ihre Beiträge in die staatliche Rentenversicherung einbezahlt und daraus Rechte erworben. Gehen sie heute in Rente, muss der Staat einen entsprechenden Kapitalstock an die von ihnen gewählte AFP überweisen. Die 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, mit denen das staatliche Vorsorgesystem den Staatshaushalt belastet hatte, war den „Chicago Boys" zu teuer. Ihr Modell aber kostet die öffentliche Hand das Dreifache, nämlich 4,7 Prozent des Inlandsprodukts. Dazu kommen noch einmal 1,3 Prozent zur Deckung der Defizite der Rentenkassen für Polizei und Militär.

Wenigstens für die Versicherten könnte es in Zukunft etwas billiger werden: Dem Parlament in Valparaiso liegt ein Gesetzesentwurf zur Gründung einer staatlichen AFP vor. Die soll dann mit niedrigen Verwaltungsgebühren der teuren privaten Konkurrenz einheizen. Gerade so, als wollte der Staat beweisen, dass er mehr vom freien Spiel der Kräfte auf dem Markt versteht als die private Wirtschaft.

Toni Keppeler ist Mitarbeiter der Reportage-Agentur „Zeitenspiegel". Er lebt abwechselnd in Tübingen, San Salvador und Santiago de Chile.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2009: Alte Menschen: Zu wenig geachtet

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